Kraftwerk1 erstellt in Dübendorf (ZH) Siedlung Zwicky Süd mit 125 Wohnungen und Gewerbe

Verzwickte Lage, mutiges Projekt

Die Wohnpionierin Kraftwerk1 wagt sich mit ihrer dritten Siedlung in die Agglomeration. Sie ist überzeugt, dass auch dort urbanes Wohnen und ein breiter Nutzungsmix funktionieren. Die raue Lage wird durch bezahlbare Mieten, Mitgestaltungsmöglichkeiten und innovative Wohnangebote wettgemacht. Weniger gut kommt das autoarme Konzept an.

Von Liza Papazoglou | Bilder: Andrea Helbling | Mai 2016

«Viele erschrecken, wenn sie das erste Mal hier sind.» Claudia Thiesen, Gesamtprojektleiterin Zwicky Süd der Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1, kennt die übliche Reaktion der Besucherinnen und Besucher, die ins Agglo-Mischmasch an der Grenze von Dübendorf, Wallisellen und Zürich kommen. Zwischen Bahnviadukt, grossen Strassen, Trambahn, Autobahnzubringern und Industriegebiet erheben sich die siebengeschossigen, dicht stehenden Gebäude. Ihre rohen Beton- und rostfarbenen Metallfassaden bilden wuchtige, abweisende Riegel gegen die Strassenseiten. Sie sind die nüchterne Antwort auf die Anforderungen einer von Industrie und Verkehrslärm geprägten Lage.

Vom Fabrikareal zur urbanen Zone

Mumm brauchte es schon, um in dieser unwirtlichen Umgebung eine Siedlung hinzustellen, die nicht einfach Schlafstätte sein will, sondern ein lebendiges Quartier mit einem bunten Mix aus Wohnen, Arbeiten, Kultur und Dienstleistungen. Kraftwerk1 hatte den Mumm. Als die für ihre innovativen Wohnkonzepte bekannte Baugenossenschaft 2008 von der Projektentwicklerin Senn BPM AG und der Immobilienberatungsfirma Wüest & Partner angefragt wurde, sich an der Entwicklung von Zwicky Süd zu beteiligen, nahm sie die Herausforderung an. Zwicky Süd ist eines von sieben Baufeldern eines über 22 Hektaren grossen ehemaligen Fabrikareals. Die Spinnerei Zwicky hatte dort 160 Jahre lang Garne hergestellt, bis sie 2001 die Produktion ins Ausland verlegte. Nach dem Wunsch der Erbengemeinschaft entsteht seitdem auf dem Gelände rund um die historischen Gebäude ein Stadtteil mit gemischter Nutzung. Verschiedene Bauherren ziehen in Etappen Wohn-, Büro- und Gewerbebauten hoch; insgesamt sind mehr als 1100 Wohnungen für etwa 1800 Bewohnende gebaut oder geplant. Sie sind Teil der boomenden Region, die zur «Glatttalstadt» zusammenwächst und für die bis 2030 weitere 120 000 Bewohner und ebenso viele Arbeitsplätze erwartet werden.

Die nüchterne Bauweise orientiert sich am industriell geprägten Umfeld.

Zwei Fussgängerbrücken, die während der Renovation der Zürcher Hardbrücke beim Escher- Wyss-Platz aufgebaut wurden, hat Kraftwerk1 gekauft. Sie verbinden nun Gross-WGs.

Ungewöhnliche Zusammenarbeit

Doch dieses dynamische Umfeld ist nur einer der Gründe, weshalb Kraftwerk1 sich mit Überzeugung am Projekt beteiligte. Als weitere Qualitäten sah es die gute Anbindung an den ÖV, nahe Erholungsräume und die vorhandenen grünen Nischen. So fliesst etwa auf einer Seite des Geländes der renaturierte Chriesbach, wo gar schon Biber gesichtet wurden. Ausschlaggebend für die Genossenschaft war aber vor allem, dass sie sehr früh ins Boot geholt wurde als innovative Partnerin mit Mut zum Experiment. So konnte sie die Entwicklung des Baufelds wesentlich mitgestalten. Claudia Thiesen: «Das ist für uns wichtig, weil wir besondere Wohnformen und einen breiten Nutzungsmix wollen. In konventionellen Bauten ist das nicht möglich.» Gemeinsam erarbeiteten die Projektpartner in der Folge ein tragfähiges Konzept für das gesamte Baufeld E, das nun als zusammenhängende Einheit mit sechs Gebäuden für insgesamt 290 Wohnungen und 5300 Quadratmeter Büro- und Gewerbeflächen daherkommt. Das Architekturbüro Schneider Studer Primas, das 2009 den Studienauftrag mit fünf geladenen Teams für sich entschied, antwortet auf die anspruchsvolle Situation von Zwicky Süd mit drei Haustypen: Vier abgewinkelte, schmale Scheiben schirmen das Areal vom Strassenlärm ab. An die Scheiben hofseitig angebaut sind Hallen, die Gewerbe- und Ateliernutzungen erlauben und den Bewohnenden gleichzeitig als Terrassen dienen. Im Geländeinnern liegen zudem zwei 30 mal 40 Meter grosse Blockbauten, die über Erschliessungs- und Lichthöfe verfügen und neben Wohnraum ebenfalls diverse Nutzungen zulassen. Der rohe Auftritt und die Materialien – Stahl, Beton, Eisen – lehnen sich konsequent an die industriell geprägte Umgebung an. Diese Strenge brechen sollen künftig die Bewohnenden und viele Kletterpflanzen entlang der Gitter von Laubengängen und Pfeilern.

Für Familien und Experimentierfreudige

Drei der Häuser gehören Kraftwerk1, das einen 11 500 Quadratmeter grossen Teil des Grundstücks kaufte; auf der restlichen Fläche des Baufelds erstellen die Senn AG gehobene Mietwohnungen und die Pensimo für die Immobilienanlagestiftungen Turidomus und Adimora günstige Wohnungen, unter anderem für Studierende. Kraftwerk1 hatte sich ausbedungen, erst Geld fliessen zu lassen, wenn die rechtskräftige Baubewilligung vorlag, und konnte so das Risiko minimieren. Im Voraus bezahlen hätte man den Landpreis von zwölf Millionen Franken auch gar nicht können, sagt Claudia Thiesen. Die gesamten 78 Millionen Franken wurden mit Hypotheken von Zürcher Kantonalbank, Einlagen der Pensionskasse der Stadt Zürich, Darlehen des Fonds de Roulement sowie Anteilscheinen und Depositenkasse finanziert. Seit letztem Sommer nun zieht hinter den rauen Fassaden allmählich Leben ein. Und zwar sehr vielfältiges. Dies liegt auch am Wohnungsmix, der vom Einzimmerstudio bis zur Vierzehneinhalbzimmerwohnung reicht und ganz verschiedene und auch sehr unkonventionelle Grundrisse bietet. Neben gewöhnlichen Klein- und Familienwohnungen gibt es so etwa WGs, die über eine Stahlbrücke mit Studios im Nebengebäude verbunden sind, oder Wohnungen, die sich über die gesamte Bautiefe des zentralen Blocks ziehen. Die innen liegenden dunklen Räume sind zum Beispiel als Archiv, Kino oder Bibliothek nutzbar. Angeboten werden auch eine Art weiterentwickelte Clusterwohnungen, die über teils halböffentliche Wohnlandschaften und diverse Nasszellen verfügen. Überhaupt sind viele Räume durchlässig, neben offenen Gemeinschaftsräumen gibt es gemeinsame Terrassen und Laubengänge. Und die ungewöhnlichen Bauten bieten auch Spektakuläres, etwa riesige, in den Raum ragende Balkone oder grossartige Aussichten auf das Alpenpanorama.

Fast kein Grundriss ist wie der andere. Es gibt ganz unterschiedliche und auch neue Wohnungstypen – vom Einzimmerstudio bis zur 430 Quadratmeter grossen Wohnlandschaft.

Breiter Mietermix

Gut drei Viertel der Wohnungen sind vergeben. Die von der Genossenschaft angestrebte Durchmischung bei der Mieterschaft ergab sich fast von selbst. Kraftwerk1 vermietet 13 Wohnungen an die Stiftung Domicil, die diese an Leute mit Schwierigkeiten auf dem Wohnungsmarkt vergibt. Vier Einheiten wurden der Stiftung Altried zur Verfügung gestellt, die begleitetes Wohnen für Menschen mit Beeinträchtigung anbietet. Insgesamt ist die Bewohnerschaft ziemlich bunt zusammengewürfelt. «Hier leben Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen. Kaum vertreten sind allerdings ältere Leute. Ihnen ist die Siedlung wohl noch zu wenig im städtischen Kontext eingebunden », so Claudia Thiesen. Vor allem kleinere Wohnungen waren sehr gefragt. Einzimmerstudios sind ab 560 Franken netto monatlich zu haben, für die günstigsten Viereinhalbzimmerwohnungen bezahlt man 1760 Franken. Trotz erschwinglichen Mietzinsen hat Kraftwerk1 aber viele Anfragen für eine Mietverbilligung aus dem genossenschaftseigenen Solidaritätsfonds erhalten; dieser ist mittlerweile denn auch ziemlich ausgeschöpft. Man wollte eigentlich auch subventionierte Wohnungen anbieten, dazu bot aber die Gemeinde Dübendorf nicht Hand. Die Höhe der Anteilscheine hingegen – bei einer Viereinhalbzimmerwohnung stolze 42 500 Franken – scheint weniger ein Hindernis für die Mietinteressenten zu sein. Viele von ihnen konnten im privaten Umfeld Darlehen organisieren.

Die Häuser 4, 5 und 6 gehören Kraftwerk1. Sie wurden erstellt auf Zwicky Süd, einem von sieben Baufeldern eines ehemaligen Fabrikareals.

Herausforderung Agglo

Ein Grossteil der Mietenden stammt aus der Glatttalregion, Kernstädter hingegen sind nur wenige hierhergezogen. «Die Lage einige hundert Meter hinter der Zürcher Stadtgrenze ist für ein urbanes und an neuen Wohnformen interessiertes Publikum offenbar ein Hindernis », stellt Vorstandsmitglied Daniela Wettstein fest. Auch aus den andern Kraftwerk1- Siedlungen zog kaum jemand her. So dürfte die Vergabe der spezielleren Wohnungstypen wohl noch etwas Geduld erfordern. Eine Hürde ist auch, dass die Siedlung autoarm ist. Das gehört sozusagen zur DNA von Kraftwerk1, das sich nachhaltigem Wohnen verpflichtet; die Zwicky-Häuser entsprechen den energetischen und bauökologischen Anforderungen von Minergie-Eco und sind 2000-Wattkompatibel. Zur Verfügung stehen ein grosses Veloparkhaus und Mobility-Autos. Anders als im städtischen Umfeld stossen in der Agglomeration die fehlenden Parkplätze aber auf wenig Akzeptanz und haben schon einige Interessenten von der Miete abgehalten. Eine für die Baugenossenschaft neue Erfahrung.

Lebendiges Quartier

Von den Bewohnenden erwartet Kraftwerk1, dass sie Selbstverantwortung wahrnehmen und das Zusammenleben aktiv gestalten. Alle Wohnungsbewerber mussten deshalb an einer obligatorischen Informationsveranstaltung teilnehmen. Bereits vor dem Bezug fanden Vernetzungstreffen statt, aus denen etwa Arbeitsgruppen für Kulturbar, Festplatz, Repair-Café oder Aussenraumgestaltung entstanden. Das funktioniere gut, meint Claudia Thiesen. «Es braucht hier allerdings deutlich mehr Unterstützung als in den anderen Siedlungen.» Das Modell stosse aber auch bei Leuten, die noch nie so gewohnt hätten, auf Interesse und werde von vielen als Chance begrüsst, eigene Ressourcen einzubringen. Auch Gewerbe und Läden zur Nahversorgung sorgen dafür, dass Zwicky Süd lebendig wird. Neben kleineren Büros und Ateliers konnte Krafwerk1 einen Blumenladen mit Lebensmittelangebot, ein Tanzstudio und eine Kleinbrauerei als Mieter gewinnen. Zudem be treibt die Stiftung Altried ein Bistro mit Bäckerei sowie ein Kleinhotel mit 14 Zimmern. Zwei Drittel der Flächen sind bereits vergeben, das Interesse lag sogar über den Erwartungen. Offenbar, so Claudia Thiesen, gab es Mund-zu- Mund-Propaganda. Trotzdem ist seitens der Genossenschaft für die Vermietung viel Aufwand nötig: «Gerade kleinere Betriebe brauchen Unterstützung. Sie sind schnell überfordert, wenn es um Ausbaufragen oder Bewilligungen geht.» Angeboten werden die Räume deshalb im Edelrohausbau, und Betriebe können bei Bedarf sonst nicht tragbare Anteilscheine auch in Raten zahlen. Als Vorteil erweist sich die gute Vernetzung mit den anderen Bauherren des Baufelds. So stimmt man die verschiedenen Nutzungen gegenseitig ab; die fürs Quartier wichtige Kleinkinderbetreuung etwa kommt in benachbarten Gebäuden unter. Gemeinsam betrieben wird die Vermietungsplattform, und für die Zukunft ist eine Zusammenarbeit auch bei Gebäudeunterhalt und Hauswartung angedacht. Das Projekt war eine Herausforderung für die kleine Genossenschaft, die sich mit ihrer neusten Siedlung aufs Doppelte vergrössert hat. Bisweilen ist sie ressourcenmässig an den Anschlag gekommen, und bei vielem, was hier anders funktioniert, musste sie umdenken. Der Mut zum Risiko hat sich dennoch gelohnt, findet Claudia Thiesen. «Es ist etwas Gutes entstanden. Die, die hier wohnen, fühlen sich wohl, es bilden sich Nachbarschaften. Und die Leute entdecken allmählich, wie viel Potenzial der Ort hat.»

Baudaten

Bauträgerin:

Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1, Zürich

Architektur:

Schneider Studer Primas GmbH, Zürich

Landschaftsarchitektur:

Lorenz Eugster, Zürich

Totalunternehmerin:

Senn BPM AG, St. Gallen

Planer (Auswahl):

Amstein + Walthert St. Gallen AG (HLKK)
Schällibaum AG (Bauingenieure)
BE Netz (PV-Anlage)

Unternehmen (Auswahl):

Alfred Oppikofer AG (Stahlkonstruktion)
AFP Küchen AG (Küchen)
Baltensperger AG (Stahlbau)
Burkhalter Technics AG (Elektroanlagen)
Ernst Schweizer AG (Fenster Alu)
G. Baumgartner AG
(Fenster Holz/Metall)
Kämpfer AG (Lüftung)
Lift AG (Aufzüge)
Solarville AG (PV-Anlage)
Steger AG (Heizung, Sanitär)

Umfang:

3 MFH, 125 Wohnungen, 7 zumietbare
Zimmer, 7 Bastelräume, 4 Gemeinschaftsräume;
43 Parkplätze, 416 Veloabstellplätze
(davon 332 gedeckt)

Hauptnutzflächen (HNF):

Wohnen:12 750 m2
Gewerbe: 3850 m2

Baukosten (BKP 1–5, ohne Parkierung):

60 Mio. CHF
3553 CHF/m2 HNF

Mietzinsbeispiele (provisorisch):

3 ½-Zimmer-Wohnung (81–92 m2):
ab 1530 CHF plus ca. 180 CHF NK
4 ½-Zimmer-Wohnung (99–126 m2):
ab 1760 CHF plus ca. 200 CHF NK
14 ½-Zimmer-Wohnung (436 m2):
7833 CHF plus ca. 850 CHF NK