
Solarstromanlagen selber einbauen spart Geld und fördert die Gemeinschaft
Gemeinsam aufs Dach
Die Energiewende-Genossenschaft Region Winterthur (EWG) plant und realisiert Photovoltaikanlagen zusammen mit der Bauherrschaft. Diesen Frühling stiegen Bewohnerinnen und Bewohner der Winterthurer Wohnbaugenossenschaft Talgut selber aufs Dach und montierten 500 Quadratmeter PV-Elemente. Bis in zwei Jahren sollen auch alle anderen Gebäude der Genossenschaft Solarstrom produzieren.
Von Daniel Krucker | Bilder: Atelier 22, Thomas Ernst | Juni 2021
Die Schweiz ist in der Lage, ihren gesamten Strombedarf vollständig mit Sonnenenergie zu decken. Das geht aus einer Studie hervor, die das Bundesamt für Energie vor zwei Jahren veröffentlicht hat. Gemäss der Studie wird das Potenzial für Solarstrom auf Schweizer Gebäuden auf 110 Prozent des Stromverbrauchs des Landes geschätzt. Photovoltaik hat also das Zeug zum «Game-Changer» in der grossen Debatte rund um die Energiewende.
Um den Ausbau der Photovoltaik voranzubringen, sind in den letzten Jahren in der ganzen Schweiz elf Solar-Selbstbaugenossenschaften (siehe Box) entstanden, die – so wie viele Wohnbaugenossenschaften auch – nach dem Milizsystem funktionieren. Die Mitglieder helfen einander in ihrer Freizeit gegenseitig, PV-Anlagen auf ihren Dächern zu installieren. Für die Sicherheit und die professionelle Ausführung der Montagearbeiten sorgen Solarplanerinnen und Solarplaner, die von den regionalen Selbstbaugenossenschaften ausgebildet und koordiniert werden.
Selbstbauweise signifikant günstiger
Martin Ovenstone ist Co-Geschäftsführer der Energiewende-Genossenschaft Region Winterthur (EWG) und schätzt, dass die Kosten für eine PV-Anlage dank der Freiwilligenarbeit zwischen ungefähr zwanzig und vierzig Prozent tiefer zu stehen kommen. Der Kostenaspekt motiviere immer mehr Hauseigentümer, Solaranlagen in Selbstbauweise zu erstellen. Das Konzept ist simpel: Die von anderen Genossenschaftsmitgliedern geleisteten Arbeitsstunden für die eigene Solaranlage werden innerhalb von zwei Jahren an einer anderen Anlage gegengeleistet. Wer aber einfach keine Zeit findet oder sich die Arbeit auf dem Dach nicht zutraut, dem verrechnet die EWG die Arbeitsstunden zu einem Ansatz von siebzig Franken. «Die meisten Projekte werden aber nach dem Prinzip der Gegenleistung abgerechnet», präzisiert Ovenstone. Aktuell zählt die EWG rund 180 Genossenschafterinnen und Genossenschafter, die bereit sind, auf anderen Baustellen ihre Stunden abzuarbeiten. Und fast täglich erhält die EWG Anfragen von Leuten, die einfach mithelfen möchten.
Vom Prinzip der Selbstbauweise hat Yves Hartmann, Geschäftsführer der Winterthurer Wohnbaugenossenschaft Talgut, im privaten Bekanntenkreis erfahren und die Idee in den Vorstand der Genossenschaft getragen. «In einer Bewohnerbefragung», erzählt er, «haben beim Thema Solarstrom praktisch alle die Installation von PV-Anlagen befürwortet.» Die Umfrageresultate hätten beim Vorstand den Anstoss gegeben, das Projekt «PV-Selbstbau» definitiv auf den Weg zu bringen – mit einem kleinen, aber entscheidenden Sonderwunsch: Nicht EWG-Mitglieder sollten bei der Installation mithelfen, sondern die eigenen Genossenschafterinnen und Genossenschafter. Das war Neuland sowohl für die EWG als auch die Talgut. Yves Hartman findet, dass das Selbstbaukonzept unter Mithilfe der eigenen Mitglieder hervorragend zu einer Baugenossenschaft passt, denn: «Das ist ein tolles Mittel, um etwas Sinnvolles mit der Stärkung der nachbarschaftlichen Kontakte zu verknüpfen.» Ende April startete die Talgut zusammen mit der EWG das Pilotprojekt an der Weberstrasse. Vier Liegenschaften mit je sechs Wohnungen produzieren nach Abschluss der Montagearbeiten voraussichtlich den gesamten eigenen Strombedarf, ausser für das Warmwasser, das ans Fernwärmenetz angeschlossen ist.


Zwei Equipen à elf Talgut-Bewohnerinnen und -Bewohnern haben zwei Wochen lang kräftig Hand angelegt und auf die Dächer von vier Häusern an der Weberstrasse insgesamt 500 Quadratmeter PV-Module montiert.

PV auf alle Dächer
Seit dem Start im Jahr 2017 realisierte die EWG 115 Selbstbauprojekte, überwiegend kleinere Projekte bis zu einer Kapazität von 30 kWp. Das Beispiel Talgut zähle die EWG zu den grossen Aufträgen, wie Michael Straub, ebenfalls Co-Geschäftsführer, sagt. Nach Abschluss der knapp zweiwöchigen Bauzeit an der Weberstrasse liefern die acht PV-Anlagen mit insgesamt 500 Quadratmetern Fläche eine Gesamtleistung von 96 kWp. Und bis in zwei Jahren sollen auch alle anderen Dächer der Talgut-Liegenschaften mit PV-Elementen bestückt werden – dank der tatkräftigen Mithilfe der Talgut-Genossenschafterinnen und -Genossenschafter.
Michael Straub hofft, dass das Interesse am Selbstbauprinzip weiter zunimmt und damit auch der Anteil an erneuerbarer Energie in der Stromversorgung. Allerdings gibt es zurzeit noch einen limitierenden Faktor beim Selbstbaukonzept: die Bauleitung. Je nach Nachfrage brauchen interessierte Bauherrschaften möglicherweise etwas Geduld, da die professionellen Solarbauerinnen und Solarbauer nicht jederzeit in beliebiger Zahl zur Verfügung stehen.
Versicherungsfrage genau klären
Für die zweiwöchige Bauzeit an der Weberstrasse hat die Genossenschaft zwei Equipen à neun Helferinnen und Helfern sowie einige Ersatzleute rekrutiert. Weil die Installationsarbeiten in die Frühlingsferien gefallen sind, haben auch Schülerinnen und Schüler mitgemacht, denen die Entschädigung von dreissig Franken pro Stunde, die die Genossenschaft offeriert hat, wohl besonders gelegen kam. Die Talgut organisierte auch ein Cateringunternehmen, das für einen Znüni und eine richtige Mahlzeit am Mittag sorgte. Yves Hartmann besuchte die Baustelle mehrmals und hat die Stimmung immer als sehr positiv erlebt. Ihn beeindruckte vor allem, wie eingespielt das Team in kurzer Zeit funktionierte. Er führt dies auf die hohe Motivation der Helfenden und die reibungslose Organisation der Bauleitung zurück. Schon heute freut er sich auf das nächste, bereits definierte Projekt. «Ich hoffe, dass die Bereitschaft mitzuarbeiten über die ganzen zwei Jahre anhält!»
Als grössten Knackpunkt und als Hinweis für andere interessierte Genossenschaften erwähnt Yves Hartmann die Versicherung für die Helferinnen und Helfer, die ja keine Mitarbeitenden der Genossenschaft sind. Es sei zwar «ein bisschen ein Murks gewesen», sagt er. Am Ende hätten sie aber die Bestätigung gehabt, dass der Schutz vorhanden sei. «Die Versicherung muss natürlich genau angeschaut werden. Aber sonst: unbedingt wagen!», sagt er voller Überzeugung.
Selbstbaugenossenschaft
Eine Übersicht aller Selbstbaugenossenschaften, die mittlerweile in der ganzen Schweiz aktiv sind, findet sich auf www.selbstbau.ch. Die Genossenschaften planen die PV-Anlagen zusammen mit der Bauherrschaft und stellen professionelle Bauleiterinnen
und Bauleiter an. Interessierte Bauherren werden Mitglied in der Selbstbaugenossenschaft ihrer jeweiligen Region. Der Mitgliederbeitrag bei der Energiewende-Genossenschaft
Winterthur (EWG) beträgt fünfhundert Franken.