Die Schweiz braucht dringend mehr günstige Wohnungen

«Das Wohnen gehört zu den Kostentreibern»

Eine bezahlbare Wohnung ist ein wichtiger Faktor, um nicht in die Sozialhilfe abzurutschen. Gleichzeitig finden Armutsbetroffene in der Schweiz nur schwer eine Wohnung. Der freie Wohnungsmarkt kann diese Probleme nicht lösen – es braucht einen nationalen Kraftakt. Das fordert Bettina Fredrich, Leiterin Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Auch die Baugenossenschaften könnten mehr tun.

Interview: Richard Liechti | Bilder: Wohnen, zVg | November 2017

Wohnen: Eine Studie des Bundesamts für Wohnungswesen kommt zum Schluss, dass der Wohnungsmarkt in der Schweiz erstmals seit Jahren im Gleichgewicht sei. Gleichzeitig liest man von der Kostenexplosion bei der Sozialhilfe. Innert zehn Jahren sind dort die Aufwendungen um fünfzig Prozent gestiegen – und zwar vor allem wegen der steigenden Mieten. Wie steht es tatsächlich um die Wohnungsversorgung?

Bettina Fredrich: Wenn man die Leerstandsquoten analysiert, wird rasch klar, dass nur im oberen Segment genügend Wohnungen vorhanden sind. Beim günstigen Wohnraum dagegen ist das Angebot nach wie vor sehr knapp. Am prekärsten ist die Situation beim untersten Preissegment, auf das Armutsbetroffene angewiesen sind. Die Studie zu den Sozialhilfekosten zeigt das klar auf. Neben den Krankenkassenprämien gehört das Wohnen zu den Ko­s­tentreibern. Dessen Anteil am Haushaltsbudget hat bei Armutsbetroffenen stark zugenommen. Man könnte überspitzt sagen: Die öffentliche Hand muss den Wohnraum zunehmend über die Sozialhilfe mitfinanzieren.

Warum gibt es immer weniger günstige Wohnungen?

Da sind ganz verschiedene Mechanismen im Spiel. Zu nennen ist etwa die Tiefsteuerpolitik mancher Kantone, die darauf abzielt, Menschen mit hohem Einkommen anzuziehen. Dies geht nicht nur in den wenigsten Fällen auf, sondern führt erwiesenermassen dazu, dass die Preise für alle Wohnungssegmente steigen. Ein weiterer Grund ist die Verdrängung unterer Schichten. Manche Gemeinden verfolgen eine offensive Abrisspolitik und ersetzen billige Wohnungen durch Neubauten, weil sie keine Sozialhilfebeziehenden wollen.

Trotz Anstieg der Durchschnittsmieten gibt es aber auch in den Hotspots noch viele bezahlbare Wohnungen.

Das Problem ist: Armutsbetroffene oder Menschen knapp oberhalb der Armutsgrenze haben oft schlichtweg keinen Zugang zu günstigem Wohnraum. Es fehlt das Beziehungsnetz oder das Wissen, wie die Wohnungssuche funktioniert, denn diese Wohnungen gehen oft unter der Hand weg. Andere sind wegen Schulden oder der Hautfarbe regelrecht vom Markt ausgeschlossen. Eine Rolle spielt auch die geringe Mobilität älterer Menschen. Oft leben Einzelpersonen oder Paare in günstigen, aber eigentlich zu grossen Wohnungen. Sie ziehen natürlich nicht um, wenn sie für eine Zweizimmerwohnung mehr zahlen müssen.

Die Fachwelt im Sozialbereich benutzt den Begriff «wohnunterversorgt». Wann trifft dies auf jemanden zu?

Der wichtigste Faktor sind eindeutig die Wohnkosten. Wer mehr als dreissig Prozent des Haushaltseinkommens für das Wohnen ausgeben muss, ist oft gezwungen, die Ausgaben in anderen Bereichen derart zu reduzieren, dass dies nicht mehr tragbar ist. Weitere Faktoren sind die Wohnungsgrösse, die Qualität, die Lage und die Wohnsicherheit. Dabei zeigt die Statistik, dass über achtzig Prozent der Armutsbetroffenen wohnunterversorgt sind.

Wie viele Menschen sind in der Schweiz denn arm? Welche Bevölkerungsgruppen sind das?

570 000 Menschen leben unter dem Existenzminimum, über eine Million ist von Armut bedroht. Betroffen sind vor allem Menschen ohne nachobligatorische Bildung und Alleinerziehende.

Wann sprechen Sie von «Armut»?

Arm ist eine Person dann, wenn sie in einem Haushalt lebt, dessen Einkommen unter dem Existenzminimum liegt. Diese Grenze, die für die Sozialhilfe massgeblich ist, berechnet das Bundesamt für Statistik. Bei einer alleinstehenden Person liegt sie bei 2600 Franken, bei einer Alleinerziehenden mit zwei Kindern bei 4000, bei einer vierköpfigen Familie bei 4900 Franken. Zieht man beispielsweise bei letzterem Fall die Wohnkosten und die Krankenkasse ab, verbleiben gerade mal 2100 Franken für den monatlichen Grundbedarf. Dabei schlägt das Wohnen gerade bei tiefen Löhnen zu Buche, ist aber auch bei mittleren Einkommen der grösste Haushaltsposten. Man darf allerdings nicht vergessen: Armut bedeutet mehr als nur knappe Finanzen.

Zur Person
Bettina Fredrich (43) hat an der Universität Bern Geografie studiert und in Bern und Vancouver in politischer Geografie promoviert. Seit fünf Jahren leitet sie die Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Sie engagiert sich im nationalen Programm gegen Armut und mit eigenen Forschungsbeiträgen für eine nachhaltige Armutspolitik in der Schweiz. Bettina Fredrich lebt mit ihrer Familie in der Genossenschaftssiedlung Oberfeld in Ostermundigen (BE).

Welche weiteren Folgen hat Armut?

Sie bedeutet, dass man auch in anderen Bereichen gravierende Einschränkungen erlebt. Bei der Wohnungsversorgung etwa, dass man nicht dort wohnen kann, wo man arbeitet, weil die Preise zu hoch sind, dass man an verkehrsreichen Lagen lebt, wo man unter Lärm leidet und die Kinder nicht draussen spielen können. Prekär sind aber oft auch die Arbeitsverhältnisse, etwa dass man auf Abruf aufgeboten wird oder mehrere Jobs braucht, um durchzukommen. Viele Menschen haben keine Ausbildung, wurden ausgesteuert oder finden aufgrund ihres Alters keine Arbeit mehr. Grundsätzlich hat jemand, der arm ist, weniger Chancen im Leben, die Handlungsmöglichkeiten sind eingeschränkt, es fehlt an positiven Zukunftsperspektiven.

Baugenossenschaften haben sich in den letzten Jahren auf den Bau grosser Familienwohnungen konzentriert. Jetzt wendet sich das Blatt manchenorts schon wieder, und kleinere Wohnungen sind gefragter. Wird die Familienphase überbewertet?

Gerade in der Kinderphase, wo man viel daheim ist und einen kleinräumigeren Radius hat, nehmen Wohnung und Wohnumfeld einen hohen Stellenwert ein. Das haben wir auch in unserer Studie zu Alleinerziehenden und Armut gesehen. Bei dieser Bevölkerungsgruppe kann eine gute Wohngelegenheit mit einem unterstützenden Netzwerk die prekäre Lage teilweise entschärfen.

Alleinerziehende sind auch bei den Bau­genossenschaften eine Bewohnergruppe, die stetig zunimmt.

Bei der Armutsfrage sind Alleinerziehende – davon gibt es in der Schweiz 200 000 – tatsächlich diejenigen, die überdurchschnittlich oft durch die Maschen fallen. Wenn plötzlich zwei Haushalte finanziert werden müssen, können das viele nicht mehr stemmen. In fast neunzig Prozent der Fälle leben die Kinder bei den Müttern, die dann meist nur in kleinen Pensen arbeiten können; eine existenzsichernde Alimentenhilfe fehlt. Kurz: Diese Bevölkerungsgruppe, die am meisten leistet, wenn man Betreuungs- und Erwerbsarbeit berücksichtigt, ist in unserem System extrem schlecht abgesichert.

Diese Problematik geht weit über das Wohnen hinaus.

So wichtig das Wohnen ist: Um Familien und Alleinerziehende zu unterstützen, braucht es mehr, etwa existenzsichernde Löhne, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie oder Alimente, die den Mindestunterhalt sicherstellen. Bei der Familienförderung liegt die Schweiz im Vergleich mit Nachbarländern weit zurück.

Im Bereich Alterswohnen sind in den letzten Jahren die meisten neuen Genossenschaften entstanden. Viele haben allerdings grosse und teure Wohnungen gebaut, weil sie auf ein Publikum schielten, das bis anhin im eigenen Haus gelebt hatte. Dabei zeigt sich klar: Kleinere, günstige Wohnungen sind in diesem Segment am meisten gefragt. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass viele Betagte mit wenig Geld durchkommen müssen.

Rentnerinnen und Rentner sind überdurchschnittlich von Armut betroffen, ja, ab Alter 65 schnellt die Armutsquote nach oben. Das hängt natürlich damit zusammen, dass man weniger Einkommen zur Verfügung hat, wenn man pensioniert wird. Dann steigt auch der Anteil, der für das Wohnen aufgewendet werden muss – umso wichtiger ist die günstige Wohnung. Von Altersarmut sind Frauen überdurchschnittlich betroffen. Dies deshalb, weil unser Sozialsystem stark an das Erwerbseinkommen gebunden ist. Sind Erwerbsunterbrüche vorhanden, etwa weil Frauen Kinder aufgezogen, Teilzeit gearbeitet oder Eltern gepflegt haben, reichen die Renten im Alter oft nicht aus. Hier setzt sich sozusagen die Erwerbsbiografie fort.


«Armutsbetroffene sind vom Wohnungsmarkt oft ausgeschlossen.»


Sie haben eine schlechte Wohnungsqualität als Kriterium für die «Unterversorgung» erwähnt. Nun achten gerade Baugenossenschaften auf den Unterhalt ihres Bestands und ersetzen Altwohnungen überdurchschnittlich oft durch Neubauten. Das steigert die Qualität – doch geht billiger Wohnraum verloren.

Mir ist bewusst, dass hier ein Zielkonflikt mit Anliegen wie Ökologie oder Verdichtung besteht. Doch aus unserer Sicht würde es Sinn machen, nicht alles auf den allerneusten Stand zu bringen und günstigen, aber qualitativ guten Wohnraum gezielt für die untersten Einkommensschichten zu erhalten.

Baugenossenschaften kennen viele Mittel, um wenig begüterte Mieterinnen und Mieter zu unterstützen. Sie reichen von gemeinschaftlichen Angeboten bis zu Betreuungsleistungen oder Mietzinsvergünstigungen. Viele Betroffene erreicht man aber gar nicht, weil sie sich schämen, Hilfe einzufordern.

Wie man die Menschen erreicht – das ist die grosse Herausforderung. Offensiv und transparent über Unterstützungsangebote zu informieren, ist sicher zentral. Und wenn ein Anrecht auf eine Leistung besteht, soll man das betonen. Tatsache ist, dass sich die Situation häufig verschlechtert, wenn sich Menschen aus Scham zurückziehen. Die soziale Integration, wie sie Baugenossenschaften leisten, ist deshalb vielleicht nicht die Lösung des Armutsproblems, kann aber trotzdem viel bewirken, weil armutsbetroffene Menschen soziale Teilhabe erfahren. Konkret können Baugenossenschaften auch etwas tun, indem sie beispielsweise auf Anteilscheine und Kautionen verzichten oder mit Organisationen wie Domicil zusammenarbeiten, die Wohnungen an Armutsbetroffene vermitteln und für den Mietzins garantieren.

Städte wie Bern, Basel oder Genf haben die Förderung der Baugenossenschaften wiederentdeckt, um auf die Bevölkerungszusammensetzung Einfluss zu nehmen. Gleichzeitig fordern lokale Bürgerinitiativen, aber auch eine nationale Initiative des Mieterverbands mehr günstigen Wohnraum. Braucht es mehr Staat, um das Wohnungsproblem zu lösen?

Zunächst: Städte sind bei sozialen Fragen die treibende Kraft – dort zeigen sich die Herausforderungen am dringlichsten. Die Städte realisieren, dass sie das Wohnungsproblem anpacken müssen. Deshalb entstehen gerade dort innovative Ansätze, sei es von einer privaten Trägerschaft wie einer Baugenossenschaft oder der öffentlichen Hand. Dabei sehen wir klar: Wenn man einfach den Markt spielen lässt, funktioniert es nicht.

Bei wem liegt der Ball?

Wir haben vor zwei Jahren in einem Monitoring untersucht, wie sich die Kantone im Bereich Wohnen und Armut engagieren. Dabei stellten wir fest, dass einzig der Stadtkanton Basel eine Strategie zu Wohnen und Armut besitzt. Hier besteht also grosser Handlungsbedarf. Wenn wir wollen, dass Angestellte mit tiefen Löhnen dort leben können, wo sie arbeiten, braucht es ein Ende der Tiefsteuerpolitik, die Mieten in die Höhe treibt, und eine konsequente Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus. Armutsbetroffene müssen Zugang zum günstigen Wohnraum haben. Wir müssen uns aber auch im Klaren sein, dass es für das Wohnungsproblem keine einfache Lösung gibt. Es braucht einen Kraftakt von Bund, Kantonen und Gemeinden, zusammen mit privaten Investoren und Initiativen.

Welchen Beitrag können die Baugenossenschaften leisten?

Die Baugenossenschaften können das Wohnungsproblem nicht allein lösen. Mit ihrer langfristigen Perspektive, mit Nachbarschaftshilfe, Mittagstischen, Kitas und den Aussenräumen für freies Spiel haben sie allerdings genau das, was viele Armutsbetroffene brauchen. Erlauben Sie mir deshalb ein Gedankenspiel: Würde jede Baugenossenschaft fünf Prozent ihres Bestands für diese Bevölkerungsgruppe zur Verfügung stellen, kämen 7500 dringend benötigte Wohnungen zusammen.

Garantiemodelle: Sicherheit für Vermieter

Für Armutsbetroffene und sozial Benachteiligte ist es besonders schwierig, eine Wohnung zu finden. Die Vermieterin ihrerseits geht ein Risiko ein, wenn sie Wohnungen an solche Menschen vergibt. Abhilfe können sogenannte Garantiemodelle schaffen, bei denen die öffentliche Hand oder ein Dritter für Mietkaution und Zins einstehen. Im Rahmen des Nationalen Programms gegen Armut hat das ETH-Wohnforum drei praktizierte finanzielle Garantie-modelle gegenüber Vermietenden untersucht: die Verbürgung der Mietkaution, die Solidarhaftung

sowie die Übernahme des Mietvertrags. Der Bericht zeigt auf, wie die Modelle durch unterschiedliche Akteure – die Stiftungen Edith Maryon, Domicil und Apollo – angewendet werden und welche Rolle die öffentliche Hand spielt. Die Studie «Sicherung und verbesserter Zugang zu Wohnraum für sozial benachteiligte Haushalte: Finanzielle Garantiemodelle gegenüber Vermietenden» (Bundesamt für Sozialversicherungen, 2017) kann unter www.gegenarmut.ch  heruntergeladen werden.