Urs Hauser, Direktor Wohnbaugenossenschaften Schweiz, über aktuelle Herausforderungen

„Ein Drittel der Wohnungen sollte genossenschaftlich sein“

Die Baugenossenschaftsbranche ist aktiv wie lange nicht mehr. Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung haben sie gestärkt und wahrnehmbarer gemacht. Trotzdem stehen die Fördermittel des Bundes in Frage und gelingt das nötige Wachstum nicht. Direktor Urs Hauser über aktuelle Herausforderungen und Wege zu ihrer Bewältigung.

Interview: Liza Papazoglou | Bild: zVg | Februar 2017

Wohnen: Seit vier Jahren sind Sie Verbandsdirektor. Was macht Ihnen bei Ihrem Job am meisten Freude?

Urs Hauser: Die Branche als solche. Sie ist äusserst spannend und zukunftsgerichtet, und ich kann mich mit ihrer Zielsetzung, schweizweit guten, preisgünstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, voll identifizieren. Es ist befriedigend, mit einem tollen Team etwas zur Entwicklung des gemeinnützigen Wohnungsbaus beizutragen. Was ich zudem schätze, ist die gute Zusammenarbeit mit Vorstand, Regionalverbänden und Delegierten. Diese breite Abstützung bereichert die Arbeit.

Wenn Sie die insgesamt 15 Jahre, die sie bei Wohnbaugenossenschaften Schweiz tätig sind, überblicken: Was sind die wichtigsten Entwicklungen in der Branche?

Das Qualitätsbewusstsein ist deutlich gestiegen. Viele Bauten, die in dieser Zeit entstanden, sind planerisch, architektonisch und städtebaulich auf hohem Niveau. Aber auch der soziale Auftrag der Genossenschaften wird wieder stärker wahrgenommen. Zudem ist der Verband selber professioneller geworden. Insgesamt setzen sich mehr Akteure vernetzter für den gemeinnützigen Wohnungsbau ein.

Was bereitet Ihnen derzeit am meisten Bauchweh?

Der zu geringe Marktanteil. Quantitativ bräuchte es ein viel grösseres Wachstum. Schwierig finde ich die teils politisch motivierte, unsachliche Kritik an Baugenossenschaften. Zudem meine ich, dass das Potenzial der verschiedenen Verbände im Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit zu wenig genutzt wird.

Sie sprachen das Wachstum an. Seit Jahren möchte der Verband den Anteil genossenschaftlicher Wohnungen am Gesamtbestand erhöhen – momentan beträgt er nicht einmal fünf Prozent. Weshalb gelingt das nicht?

Die hohen Land- und Immobilienpreise in städtischen Gebieten und Agglomerationen machen es für Baugenossenschaften sehr schwierig, tragbare Mietzinse anzubieten. Zudem existiert auf Bundesebene im Vergleich zu Deutschland oder Österreich kaum eine nennenswerte finanzielle Wohnbauförderung. Vielleicht ist aber auch das Bewusstsein dafür, wie wichtig das Wachstum ist, bei den verschiedenen Akteuren noch zu gering.

Wie viel gemeinnütziger Wohnungsbau wäre Ihr Ziel?

Gemessen an den Qualitäten des gemeinnützigen Wohnungsbaus müsste eigentlich ein Drittel der Wohnungen genossenschaftlich sein. Denn der genossenschaftliche Wohnungsbau trägt viel zu adäquater Wohnraumversorgung bei und bietet zudem Mehrwerte wie Sicherheit oder gute Nachbarschaft. Für Wachstum sprechen auch die Ziele der «Charta der gemeinnützigen Wohnbauträger»: Sie verlangen, dass die Wohnversorgung für eine breite Mittelschicht sichergestellt wird, aber auch Schwächere integriert werden. Zehn Prozent der Menschen hierzulande sind arm oder armutsgefährdet, der grösste Teil von ihnen ist ungenügend mit Wohnraum versorgt. Wenn Baugenossenschaften Abhilfe schaffen sollen, reicht ein Anteil von fünf Prozent nirgends hin. Je ein Drittel gemeinnützige, Eigentums- und Mietwohnungen wäre ein vernünftiges Verhältnis.


"Am meisten Bauchweg bereitet mir der zu geringe Marktanteil."


Was tut der Verband, um den Marktanteil zu erhöhen?

Natürlich unterstützen wir wie bisher neue Genossenschaften mit Beratungen und Finanzierungshilfen. Zudem haben wir weitere «Motorengefässe» geschaffen, die sich explizit das Wachstum des gemeinnützigen Wohnungsbaus zum Ziel gesetzt haben. Dabei tun sich Genossenschaften in irgendeiner Form zusammen, um Projekte an Orten oder in Grössenordnungen zu realisieren, die allein nicht zu bewältigen wären. Beispiele dafür gibt es in Basel und in der Ostschweiz, weitere Projekte sind geplant. Dann unterstützen wir Plattformen, die dem vermehrten Austausch dienen, in Zürich etwa die «Plattform Genossenschaften» oder in der Romandie ein Forum, das regelmässig zusammen mit den Gemeinden durchgeführt wird. Neben der Vernetzung werden wir auch die Öffentlichkeitsarbeit weiter stärken. Viele Leute, vor allem ausserhalb der Zentren, haben nur vage Vorstellungen davon, was Wohnbaugenossenschaften überhaupt sind und leisten. Das möchten wir breiter aufzeigen und damit insbesondere auch junge Leute ansprechen. Mit dem Projekt «Genossenschaften machen Schule» etwa stellen wir ab dem Sommer online Unterrichtsmaterialien für Berufsschülerinnen und -schüler zur Verfügung. Für die Sensibilisierung des politischen Systems auf Kantons- und Gemeindeebene bieten wir
Informationen und Prozessbegleitungen an.

Seit 2013 führt der Bundesrat zusammen mit Bund, Kantonen und Städten den sogenannten wohnungspolitischen Dialog. Nennenswerte Resultate hat er kaum gebracht. Enttäuscht Sie das nicht?

Grundsätzlich begrüsse ich es sehr, dass die verschiedenen Ebenen überhaupt in diesen Dialog getreten sind und gemeinsam wichtige Themen diskutieren. Mir ist es deshalb wichtig, dass der Austausch weitergeführt wird – auch wenn er bis anhin keine konkreten umsetzbaren Resultate vorweisen kann. Der Dialog hilft aber, den Gemeinden und Kantonen bewusst zu machen, dass der gemeinnützige Wohnungsbau zum Wohnfrieden beiträgt und in die ganze Wohnraumstrategie einfliessen muss. Das ist eine wichtige Grundlage, denn dort, vor Ort, findet letztlich die Umsetzung statt.

Urs Hauser (53) ist seit 2013 Direktor von Wohnbaugenossenschaften Schweiz. Zum Verband kam der Architekt und Raumplaner über den sozialen Wohnungsbau im Jahr 2001. Er hatte unterschiedliche Funktionen inne, bevor er 2004 zum Vizedirektor ernannt wurde. Neben Weiterbildungen in verschiedenen Gebieten erwarb er 2008 auch den Executive Master of Business Administration in NPO-Management an der Universität Freiburg i.Ü. Urs Hauser lebt in einem Reiheneinfamilienhaus in Küttigen (AG), ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

In den letzten Jahren ist die Präsenz von Genossenschaften in den Medien gestiegen. Dabei wurde auch die Kritik lauter. Zu den häufigsten Vorwürfen zählt die Behauptung, in Genossenschaftswohnungen lebten die falschen Leute. Was halten Sie dem entgegen?

Aus meiner Sicht gibt es keine falschen und richtigen Leute. Es gibt nur Menschen. Genossenschaftliches Wohnen muss im Sinne der sozialen Durchmischung offen sein für alle, das ist unser dezidiertes Credo. Das bedeutet, niemanden auszuschliessen – ob arm oder reich, alt oder jung. So gesehen ist es ein grundsätzlicher Denkfehler, wenn man sagt, Genossenschaftswohnungen sollten nur einer bestimmten Zielgruppe zur Verfügung stehen.

Das ist sicher richtig. Zahlen etwa aus Zürich oder Biel zeigen aber auch, dass der Anteil von Bewohnern mit ausländischem Pass in Baugenossenschaften tiefer ist als auf dem übrigen Wohnungsmarkt. Stimmt die Vermietungspraxis?

Studien belegen, dass die durchschnittlichen Haushalteinkommen von Genossenschaftsmietern deutlich tiefer sind als im übrigen Wohnungsmarkt. Insgesamt sprechen wir also als Branche diejenigen Personen an, die auf eine günstige Wohnung angewiesen sind, und sorgen für eine gute soziale Durchmischung. Letztlich müssen aber Baugenossenschaften selber entscheiden, wem ihr preisgünstiger Wohnraum zugutekommt. Es ist nicht sinnvoll, pauschal zu verlangen, dass jede einzelne einen bestimmten Anteil an Armutsbetroffenen, Nichtschweizern, Asylbewerbern, Gutverdienenden usw. aufnehmen muss. Aber nochmals: Gesamtschweizerisch funktioniert die Vermietungspraxis sehr gut. Etwa siebzig Prozent der Baugenossenschaften stellen mit Vorschriften zu Belegung, Einkommen oder Vermögen sicher, dass zum Beispiel Familien und Leute in bescheidenen Verhältnissen zahlbare Wohnungen erhalten. Einzig die finanziell allerschwächsten Schichten, darunter Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger, sind eher untervertreten.

Sollten gemeinnützige Wohnbauträger nicht genau da eine besondere soziale Verantwortung wahrnehmen?

Doch. Das ist aber kein Müssen, sondern ein Dürfen. Letztlich sind Baugenossenschaften freie Unternehmer, die planen und bauen wie andere Akteure auf dem Markt auch. Zwang ist deshalb nicht der richtige Weg. Baugenossenschaften haben aber immer schon freiwillig ein hohes soziales Engagement bewiesen. Ihre Mitglieder sind Miteigentümer, die etwas teilen, füreinander da sind. Sie sind dazu prädestiniert, sozial Schwächere zu integrieren. Selbstverständlich müssen sich Verband und Branche Gedanken dazu machen, wie man die Integration bestimmter Zielgruppen noch stärker fördern kann. Doch auch hier sei auf den tiefen Marktanteil verwiesen. Damit lassen sich schlicht nicht alle Anforderungen erfüllen.


"Genossenschaftliches Wohnen muss offen für alle sein."


Die Branche beschäftigt zurzeit auch, dass 2017 zum letzten Mal frisches Geld aus dem 2003 vom Parlament gewährten Rahmen­kredit in den Fonds de Roulement fliesst. Was tut der Verband, um einen neuen Rahmenkredit zu erwirken?

Neben den Bürgschaften ist der Fonds de Roulement das einzige Fördermittel des Bundes. Unser Ziel ist es, wenigstens diese minimalste Wohnbauförderung zu gewährleisten. Im momentanen Umfeld – ich verweise auf die steigende Wohnungsleerstandsziffer und die politische Zusammensetzung des Parlaments – braucht aber nur schon das grosses Enga­gement und aktive Lobbyarbeit. Wir haben deshalb in den letzten Jahren unter den Parlamentarierinnen und Parlamentariern kontinuierlich ein Kontaktnetz aufgebaut, das wir sicher nutzen werden. Zudem spannen wir mit anderen Akteuren zusammen, zum Beispiel mit dem Mieterverband bei der Umsetzung der Initiative «Mehr bezahlbaren Wohnraum». Gemeinsam mit unserem Partnerverband Wohnen Schweiz haben wir uns direkt an den Bundesrat gewandt. Wir erwarten nun seine Erläuterungen dazu, wie er gemäss Gesetzesauftrag den gemeinnützigen Wohnungsbau auch in Zukunft unterstützen will. Entsprechend werden wir einen Massnahmenplan erarbeiten. Trotz unseren Bemühungen ist es aber denkbar, dass es zwischen dem auslaufenden und einem neuen Rahmenkredit zu einer Lücke kommt. In diesem Fall wird deutlich weniger Geld für die Wohnbauförderung zur Verfügung stehen.

Welche Herausforderungen beschäftigen die Branche ausserdem in nächster Zeit?

Inhaltlich befasst sich der Verband aktuell intensiv mit den Themen Kostenmiete und Baurecht. Wir möchten dafür neue Grundlagen schaffen, auf die sich künftig alle Baugenossenschaften abstützen können. Die Genossen­schaf­ten selber sind gefordert durch die Frage, wie sie sich über günstigen Wohnraum hinaus positionieren und spezifische Bedürfnisse noch besser abdecken können. Wir leben ja je länger, je mehr in einer Freizeit- und Genussgesellschaft. Gleichzeitig gibt es aber auch eine Tendenz zur Vereinsamung, da es immer mehr ältere Menschen und Einpersonenhaushalte gibt. Baugenossenschaften bieten da bereits gute Lösungen, etwa innovative Alters- und Mehrgenerationenprojekte. Sie müssen aber offen bleiben für weitere Entwicklungen. Dafür brauchen sie noch mehr gute Nachwuchskräfte, die interdisziplinär denken und über breite Kenntnisse verfügen. Diese zu finden, ist nicht einfach, denn die Ansprüche an die Führung einer Genossenschaft sind enorm gestiegen. Heute müsste man fast schon Jurist, Finanzfachmann, Architektin und Coach in einem sein, um alles im Griff zu behalten.

Welche Schwerpunkte setzt der Verband angesichts des anspruchsvollen Umfelds?
In den letzten Jahren gab es bei Vorständen und Geschäftsstellen der Baugenossenschaften eine spürbare Professionalisierung. Da kommt dem Verband eine wichtige Funktion als kompetenter Ansprechpartner und Drehscheibe zu. Wir sind die Problemlöser, die bei allen wichtigen Fragen Unterstützung bieten. Zu unseren Pfeilern zählen Weiterbildung, Rechtsberatung und Finanzdienstleistungen; die Nachfrage nach diesen Angeboten ist deutlich gestiegen. Wir werden sie bei Bedarf weiter stärken. Das gilt auch für Öffentlichkeitsarbeit und politische Tätigkeit. Wir sollten zudem noch intensiver mit weiteren Akteuren zusammenarbeiten. Es gibt viele Organisationen, die wir nicht immer auf dem Radar haben, die sich aber auch mit preisgünstigem Wohnraum befassen. Ich sehe beachtliches Potenzial in Partnerschaften mit solchen Organisationen.

Mit den Leistungsvereinbarungen stehen den Regionalverbänden Mittel zur Verfügung, um eigene Projekte zu realisieren. Was läuft dort?

Einiges. Basel zum Beispiel beschäftigt sich mit der sozialen Nachlassplanung. Derzeit werden der juristische Rahmen und mögliche Szenarien geklärt, wenn Leute dem gemeinnützigen Wohnungsbau Geld vermachen möchten. Der Regionalverband Bern ist unter anderem daran, eine Inte­res­sengruppe Solothurn aufzubauen. Ein lokales Genossenschaftsnetz ist in der Region Ostschweiz, die mehrere und grosse Kantone umfasst, in Planung. Künftig sollen sich dort Mitglieder aus verschiedenen Städten austauschen und vernetzen können. Zürich plant eine grössere Imagekampagne.

Im Sommer stehen im Verband Wahlen an. Vier Sitze sind neu zu besetzen. Was wünschen Sie sich vom neuen Vorstand?

Ein weiterhin ausgewogenes Zusammenwirken zwischen Vorstand und Geschäftsstelle. Das heisst, dass Grundsätze und Ziele partizipativ erarbeitet werden. Die Zusammenarbeit läuft im Moment sehr gut, und ich wünsche mir, dass das auch mit dem neuen Vorstand so ist.

2019 feiert der Verband sein 100-Jahr-Jubiläum. Was ist geplant?

Es soll ein richtig grosses Geburtstagsfest geben. Wir möchten das Jubiläum aber auch nutzen, um innezuhalten und darauf zurückzublicken, was wir in dieser Zeit alles geleistet haben für eine gute Wohnraumversorgung. Natürlich richten wir den Blick auch nach vorne. Details verrate ich aber noch keine.

Braucht es den Verband in weiteren 100 Jahren überhaupt noch?

Ja. Den gemeinnützigen Wohnungsbau wird es immer brauchen, weil es ein Bedürfnis danach gibt. Deshalb braucht es auch einen starken Verband, der die Entwicklung der Branche vorantreiben kann. Vor kurzem wurden Genossenschaften zum Weltkulturerbe erhoben. Das zeugt von ihrer langfristigen und grossen Bedeutung. Daran wird sich auch in hundert Jahren nichts geändert haben.