
Architekt Adrian Streich über die Herausforderungen im genossenschaftlichen Neubau
«Unser Spielraum wird zunehmend eingeschränkt»
Kaum ein anderes Architekturbüro baut so oft für gemeinnützige Bauträger wie Adrian Streich Architekten. Die grosse Herausforderung besteht dabei weniger in der Kostendisziplin oder den energetischen Vorgaben. Vielmehr sind es die zunehmende Verdichtung ohne zusätzliche baurechtliche Spielräume und die Fülle von Vorschriften, die den Architekten einschränken. Für Baugenossenschaften arbeitet Adrian Streich gerne, denn mit dem genossenschaftlichen Wohnen verbindet er wichtige Lebenserfahrungen.
Interview: Richard Liechti | Bilder: Roland Bernath, zVg | November 2018
Wohnen: Ihr Büro ist gerade im gemeinnützigen Wohnungsbau höchst erfolgreich. In den letzten Jahren haben Sie eine Reihe von Architekturwettbewerben gewonnen. Was machen Sie besser als die anderen?
Adrian Streich: Es ist nicht meine Art, mich hier hervorzuheben. Dass der Zürcher Wohnungsbau eine derartige Bedeutung erlangt hat, ist das Verdienst einer Gruppe von Architekten.
Anders gefragt: Was zeichnet Ihre Entwürfe aus?
Was man sicher sagen kann: Unser Büro bietet eine gewisse Konstanz. Wir nehmen jede Aufgabe ernst und arbeiten Entwürfe sorgfältig aus. Das Zentrale an einem guten Projekt ist jedoch, dass es auf einer starken Grundidee basiert. Dafür braucht es neben Engagement oder Wissen um die Architekturgeschichte einen gewissen Instinkt.
Wie entscheiden Sie, ob Sie an einem Wettbewerb teilnehmen? Schliesslich ist dies mit Aufwand und Kosten verbunden.
Wir achten darauf, dass es ein seriöses Verfahren mit einem erfahrenen Veranstalter ist. In der Jury sollten Architekten sein, die selbst regelmässig an Wettbewerben teilnehmen. Und schliesslich bevorzugen wir Projekte, wo die Ausführung traditionell mit einem Bauleiter organisiert ist.
Mir fällt auf, dass bei den Architekturwettbewerben im gemeinnützigen Bereich häufig die gleichen Architekten gewinnen. Das ist eine relativ kleine Gruppe, zu der auch Sie zählen, die oft zur Teilnahme eingeladen wird. Gleichzeitig sitzen Vertreter dieser Büros in Wettbewerbsjurys. Ich will der Architektenzunft bestimmt nichts unterstellen – aber da besteht Erklärungsbedarf.
Es ist richtig, dass man sich gegenseitig kennt und auch in Jurys einsitzt. Dass man sich bei der Jurierung gegenseitig begünstigen würde, habe ich in meiner eigenen Jurytätigkeit nie erlebt. Es geht vielmehr darum, die verschiedenen Interessen und Ansichten der Sach- und Fachpreisrichter auszudiskutieren und das beste Projekt für die gestellte Aufgabe zu finden. Für jeden Architekten ist klar, dass das Wettbewerbswesen ein wichtiger Wert ist und es dort absolut fair zugehen muss. Dass manche Büros häufiger gewinnen, hat mit deren Talent und dem angesammelten Wissen zu tun. Im Übrigen werden auch immer wieder Newcomer eingeladen. Die müssen sich allerdings zuerst in offenen Verfahren engagieren – das war bei mir nicht anders.
Angenommen, Sie stehen vor der Aufgabe, ein Ersatzprojekt für eine typische Genossenschaftssiedlung aus den 1940er-Jahren zu entwerfen. Wie gehen Sie vor?
Zuerst untersuchen wir den Ort. Wenn wir die Gesamtsituation betrachten mit dem Quartier, der Strasse, den Wohnungen und ihren Nutzungen, dann steht der Ort hierarchisch zuoberst. Deshalb ist es wichtig, ihn auch physisch zu erfahren. Oft ist es auch so, dass man auf Grundstücken plant, die nicht ideal sind. Es gibt Lärmimmissionen, ungewohnte Geometrien, städtebaulich heterogene Situationen. Wir versuchen dann, auf diese Reibungen und Widersprüche zu reagieren. Da geht es darum, Dinge miteinander in Beziehung zu setzen, zu vernetzen – das ist ein Hauptthema beim Entwerfen. Deshalb ist auch die Erschliessung etwas Zentrales oder der Aussenraum, bei dem wir stets mit Landschaftsarchitekten zusammenarbeiten.
Dies ist denn auch ein Merkmal der siegreichen Projekte: dass sie Strukturen schaffen, die ein nachbarschaftliches Zusammenleben begünstigen. Ein gutes Beispiel dafür ist Ihr Projekt in der Greencity mit den ringförmigen Terrassen im Innenhof, die ebenfalls als Durchgang dienen.
Ob Genossenschaft oder etwa auch eine Schule – uns fasziniert die Frage, wie man vom öffentlichen in den privaten Raum kommt, wie man das organisiert und vernetzt. Das hat dann automatisch mit dem Gemeinschaftlichen zu tun, mit der Frage, welches die Rolle des Einzelnen in einer Gemeinschaft ist.

Adrian Streich (52) hat an der ETH Zürich Architektur studiert. 1997 gründete er ein eigenes Architekturbüro, das 2001 den offenen Wettbewerb um die städtische Siedlung Werdwies in Zürich gewann. Heute beschäftigt die Adrian Streich Architekten AG mit Sitz in Zürich rund dreissig Personen. Die Werkliste umfasst eine ganze Reihe gemeinnütziger Wohnsiedlungen. Während vieler Jahre lebte Adrian Streich mit seiner Familie bei den Baugenossenschaften Selbsthilfe und Oberstrass in Zürich.
Aber bei den Genossenschaftssiedlungen ist es besonders ausgeprägt.
Ich halte den genossenschaftlichen Wohnungsbau grundsätzlich für sehr wertvoll. Man betrachte nur die Stadt Zürich, wo die Baugenossenschaften praktisch als reine Selbsthilfeorganisationen funktionieren. Und für uns Architekten ist es grossartig, dass es beim genossenschaftlichen Wohnungsbau nicht nur um die einzelne Wohnung und deren Vermietung geht, sondern auch um das Gemeinschaftliche. Das Zusammenleben in einer Genossenschaft ist gerade für junge Familien etwas Tolles. Das durfte ich selbst erfahren.
Im Gegensatz zu den meisten Architekten haben Sie selbst in Genossenschaften gelebt.
Als unser erster Sohn auf die Welt kam, zogen wir in eine Genossenschaftswohnung – das bedeutete nicht nur, dass wir eine bezahlbare Wohnung fanden, sondern eben auch, dass die Kinder in einer Umgebung mit zwei Wohnhöfen aufwuchsen, wo man leicht Kontakte knüpfte. Und die Wohnung im Hochparterre besass sogar einen direkten Hofzugang – ein Beispiel, wie die Vernetzung schon im genossenschaftlichen Wohnungsbau der 1920er-Jahre funktionierte. Das war eine schöne Zeit – nachdem unsere Kinder erwachsen wurden, zogen wir jedoch aus und gaben die Wohnung für eine junge Familie frei. Die Belegungsvorschriften, wie sie viele Baugenossenschaften praktizieren, halte ich für eine gute Sache.
Haben Sie als Genossenschaftsbewohner Erfahrungen gemacht, von denen Sie als Architekt profitieren?
Sicherlich fliesst jede persönliche Erfahrung, die ein Architekt macht, in seine Arbeit ein. In den zwanzig Jahren Baugenossenschaft habe ich erlebt, wie eine Genossenschaft funktioniert, wie ihre Kommissionen arbeiten, wie sie zu Entscheidungen kommt.
Zurück zum Bauen: Gerade Ersatzneubauten bergen oft riesige Ausnützungsreserven. Städte wie Zürich streben inskünftig eine noch stärkere Verdichtung an. Wie weit bestimmt dies die Entwurfsarbeit?
Die Dichte ist schon heute ein wichtiges Thema. Grössere Genossenschaftsprojekte profitieren dann auch noch vom Arealbonus. Dies hat in der Kombination mit den Mehrlängen- und Mehrhöhenzuschlägen den Effekt, dass der Spielraum tatsächlich klein ist und wir Architekten sehr viel Arbeit darauf verwenden, schon nur das Volumen unterzubringen. Die Suche nach einer Idee rückt dann sogar in den Hintergrund.
Was sind die Folgen?
Eine Stadt sollte eine gewisse Vielfalt haben. Diese nimmt aber tendenziell ab, weil wir keine dreigeschossigen Häuser oder Reihenhaustypen mehr bauen können und dadurch auch die Vielfalt der Wohnungstypen abnimmt. Die Verdichtung verstärkt die Tendenz zum Automatismus – etwa indem man meist auf den wirtschaftlichen Vierspänner setzt. Dies führt zusammen mit den vielen weiteren Vorschriften im energetischen Bereich oder beim Lärmschutz zu einer Normierung, die ich sehr bedauerlich finde. Diese Tendenz ist generell festzustellen, wobei die Vorschriften durchwegs schleichend strenger werden. Vieles ist natürlich sinnvoll, aber insgesamt schmälert dieser Prozess den Handlungsspielraum nicht nur beim Bauen, sondern unserer ganzen Gesellschaft.
Was mir auch auffällt: Gerade in den Genossenschaftshochburgen, die früher recht einheitlich bebaut waren, entsteht durch den Ersatzneubau ein Nebeneinander von markanten Grossbauten. Wie weit teilen Sie diese Kritik?
Man spricht in diesen Fällen von «Inselurbanismus». Hier gilt es zu unterscheiden: In heterogenen Quartieren mit einer Mischung aus Alt und Neu, Gross und Klein ist dies ganz normal. Dort besteht bereits ein Grossteil der Bauten aus solchen Inseln. Es geht dann vor allem darum, wie sie mit der Nachbarschaft vernetzt werden. Anders sieht es in homogeneren Quartieren aus. Dabei handelt es sich beim genossenschaftlichen Wohnbau meist um die Gartenstädte aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.
«Ein gutes Projekt basiert auf einer starken Grundidee.»
Beispielsweise Schwamendingen, das nach dem Plan von Stadtbaumeister A. H. Steiner gebaut wurde.
In Schwamendingen haben wir tatsächlich eine Chance verpasst. Man hat einfach versucht, mehr Volumen in die Gartenstadt zu bringen. Stattdessen hätte man sich eingestehen müssen, dass der Steinerplan künftig massiv verändert wird. Man hätte sich überlegen müssen, wie ein neues Schwamendingen aussehen kann und die grosse Qualität des Steinerplans, nämlich seine Durchlässigkeit, erhalten bleibt.
Der Knackpunkt bei Genossenschaftsbauten sind stets die Baukosten, denn schliesslich will man Wohnraum schaffen, der für ein breites Publikum bezahlbar ist. Gleichzeitig wünscht man eine hohe Bauqualität. Verschiedene Architekten beklagen sich denn auch, die Genossenschaften würden zu sehr auf die Kostenbremse treten.
Für mich ist klar, dass Genossenschaftswohnungen preiswert sein sollen. In Zürich gelten bezüglich Baukosten meist die Richtlinien für subventionierte Wohnungen – diese zu erreichen, ist zwar nicht ohne, aber machbar. Wichtig ist, dass man das Geld richtig einsetzt, etwa indem man eine dauerhafte zweischalige Fassade wählt. Beim Ausbau dagegen gibt es auch günstige Materialien, die viel Ausstrahlung besitzen.
Um Kostensicherheit zu erhalten, ziehen manche Baugenossenschaften einen Totalunternehmer (TU) bei, der die Ausführung zu einem Fixpreis garantiert. Tatsächlich resultieren bisweilen erstaunlich günstige Mietzinse.
Wir Architekten verstehen uns als Generalisten, die auch die Gesamtleitung innehaben sollten. Daher bevorzugen wir das konventionelle Verfahren. Auch in Projekten mit Totalunternehmern werden nicht weniger Wände, Dächer, Bäder oder Küchen verbaut. Falls diese Projekte wirklich günstiger gebaut werden, zahlt jemand den Preis dafür – die Handwerker mit ihren Tiefpreisen.
Ein ganz anderes Thema: Bei den Grundrissen neuer Genossenschaftswohnungen beobachte ich eine erstaunliche Vielfalt. Nutzungsneutrale Räume entstehen anstelle des früheren Familienwohnzimmers. Verkehrsflächen werden minimiert – oder man trifft gerade auf grosszügige Entrées. Die Küche ist gänzlich offen – oder ein eigener abgetrennter Wohnraum.
Das halte ich für einen der ganz grossen Werte, die beim genossenschaftlichen Wohnungsbau in letzter Zeit entstanden sind. Sei es über die Wohnformen, von der Kleinwohnung bis zum Cluster, sei es, wie man Küche oder Balkon interpretiert, sei es über Raumfragen oder die Erschliessung – es ist eine faszinierende Vielfalt geschaffen worden. Das ist wichtig, denn damit decken die neuen Siedlungen die unterschiedlichsten Bedürfnisse ab. Und es ist spannend für uns Architekten: Beim Grundriss kann man immer wieder etwas Neues entdecken. Es findet auch ein Austausch der Ideen zwischen den Büros statt, so dass gute Ideen multipliziert werden.
Ein Kriterium bei Architekturwettbewerben ist stets die Flexibilität der Wohnungen. In Tat und Wahrheit werden später kaum je Wände verschoben.
Die bauliche Flexibilität ist für mich auch weniger bedeutend. Wichtiger ist die Flexibilität beim Gebrauch: dass die Bewohnerinnen und Bewohner die Räume etwa dank besonderer Öffnungen oder Grössen unterschiedlich nutzen können. Eine tolle Sache sind auch zumietbare Räume, die ganz neue Konstellationen möglich machen.
Bei den Wohnungsgrössen ist eine Tendenz zu kleineren Flächen festzustellen. Ist das ein effizientes Mittel, um die Kosten zu senken?
Ich denke, dass sich die Wohnungsgrössen heute wieder auf einem vernünftigen Mass eingependelt haben, das bei der genossenschaftlichen Viereinhalbzimmerwohnung bei 95 bis 100 Quadratmetern liegt. Wenn eine Wohnung 95 statt 105 Quadratmeter misst, spart das tatsächlich Kosten, da die Geschossfläche dann auch um rund zehn Prozent abnimmt.
«Wichtig ist, dass man das Geld richtig einsetzt.»
Werfen wir noch einen Blick auf die Gebäudehülle. Genossenschaftssiedlungen aus den 1940er- oder 1960er-Jahren kommen sehr uniform daher. Im 21. Jahrhundert dagegen scheint alles möglich: Holz, Beton, Glas, Sichtbackstein.
Eine einheitliche Erscheinung wie beim damaligen Steinerplan ist heute kaum mehr zu realisieren. Unsere Gesellschaft ist offener, vielfältiger und individueller. Es fällt schwerer, sich von oben verordneten Ideen unterzuordnen. Dazu kommt, dass Architekturwettbewerbe die Differenz fördern. Man muss sich von den anderen Wettbewerbsbeiträgen unterscheiden, um gewinnen zu können. Wir leben 2018 und nicht 1948 – und das ist gut so, auch wenn die Individualisierung ihre Schattenseiten hat.
Bedeutet dies, dass die Architekten beispielsweise einen Holzbau vorschlagen, weil Holz derzeit bei den Wettbewerbsjurys gut ankommt?
Wir haben den Anspruch, die Form stets aus dem Kontext heraus zu schaffen, jede Aufgabe separat zu betrachten. Das gilt für meine ganze Architektengeneration. Man erkennt dort kaum einen Architekten an seinem Entwurf, wie dies früher oft der Fall war. Unser Büro hat beispielsweise Sichtbackstein beim Schulhausbau verwendet, weil dies dort ein traditionelles Baumaterial ist. Bei der Überbauung Letzibach C – sie liegt direkt am Gleisfeld, Bauherrin sind die SBB Immobilien – wählten wir zusammen mit Loeliger Strub Architektur Juraklinker, da er die Bahnbauten entlang der Hohlstrasse prägt.
Baugenossenschaften sind Bauherren, bei denen meist viele mitreden: von Vorstand und Baukommission bis zum Mitglied. Stellt das besondere Anforderungen an die Kommunikation?
Die Organisation einer Baugenossenschaft erlebe ich als erstaunlich schlank. Sicher muss man das Projekt den Mitgliedern an der Generalversammlung vorstellen. Doch danach ist es mit basisdemokratischem Entscheid genehmigt. Im weiteren Prozess ist die Baukommission der Ansprechpartner, eine kleine Gruppe, die für die meisten Entscheidungen genügend Kompetenz besitzt. Wenn dies Laien sind, ist das kein Problem. Denn es handelt sich durchwegs um Menschen, die sich mit grossem Engagement für ein Anliegen einsetzen – und das deckt sich mit unserem Anliegen, gute Häuser zu bauen.