Baugenossenschaften und Stadt Biel spannen für Quartierentwicklung zusammen

«Wir sitzen im selben Boot und rudern in dieselbe Richtung»

Um Ideen für die Weiterentwicklung des Geyisried-Quartiers zu gewinnen, haben in Biel sieben Baugenossenschaften und die Stadt am Ideenwettbewerb Europan teilgenommen. Jetzt planen sie gemeinsam weiter. Sarah Gäumann von der Stadtplanung Biel und Daniel Frey als Vertreter der Genossenschaften erklären, wie sie diese erstmalige Zusammenarbeit erleben und wo sie Chancen und Schwierigkeiten sehen.

Interview: Patrizia Legnini | Bilder: Europan Schweiz, Wohnen | 2023/02

Wohnen: Das Geyisried gilt als grösstes ­Genossenschaftsquartier in Biel. Wodurch zeichnet es sich sonst noch aus, wie lebt es sich dort?

Sarah Gäumann: Das Geyisried ist grün und eher locker bebaut. Früher gab es dort viele Nutzgärten, heute werden die Grünflächen leider weniger intensiv genutzt. Zudem ist das Quartier heute eher überaltert, was auch damit zu tun hat, dass sehr viele Wohnungen nur drei Zimmer aufweisen.
Daniel Frey: Früher war im Quartier mehr los als heute, die langjährige Mieterschaft war gut vernetzt. Heute wirkt es etwas verschlafen – die Bewohnerinnen und Bewohner arbeiten ganztags auswärts, die Kontakte brechen weg. Trotzdem ist das Geyisried bis heute ein angenehmes, multikulturelles Wohnquartier am Rande der Stadt, das verkehrstechnisch gut erschlossen ist.

Wie viele andere genossenschaftlich geprägten Quartiere wurde auch das Geyisried in der Nachkriegszeit gebaut. Wie steht es heute um Bausubstanz und Bebauungsdichte?

S.G.: Die Bebauungsdichte ist vor allem im nördlichen Quartierteil tief. Das Erneuerungspotenzial ist allerdings je nach Siedlung und Genossenschaft unterschiedlich ausgeprägt. Viele Gebäude weisen veraltete Grundrisse auf und entsprechen nicht mehr heutigen Normen.
D.F.: Die meisten Gebäude wurden zwischen 1950 und 1960 gebaut. Die Bausubstanz wäre noch in Ordnung, aber in energetischer und schalltechnischer Hinsicht steht es schlecht um die Gebäude. Äusserlich sind sie etwas in die Jahre gekommen, innen wurden die kleinen Wohnungen gut unterhalten. Wie viel Verdichtung das Quartier verträgt und welches Potenzial in den Häusern vorhanden ist, wird man nun genau ausloten müssen.

Um Ideen für die künftige Entwicklung des Quartiers zu erhalten, hat die Stadt Biel 2020 zusammen mit sieben Wohnbaugenossenschaften, die im Geyisried Liegenschaften besitzen, am städtebaulichen Ideenwettbewerb Europan 16 (siehe Box) teilgenommen. Wie ist es dazu gekommen?

S.G.: Die Basis bildet das Modellvorhaben, das die Stadtplanung von 2014 bis 2018 unter Einbezug der Wohnbaugenossenschaften durchführte. Die meisten Bauten im Quartier stehen auf Grundstücken, die die Stadt Biel im Baurecht abgibt, und viele dieser Verträge liefen per Ende 2016 aus. Mit dem Modellvorhaben konnten wir uns ein Bild über den Bestand machen. Die ­Studie zeigte auf, dass im Geyisried mittel- bis langfristig ein grosses Erneuerungs- und auch ein Verdichtungspotenzial ­besteht. In der Folge schlugen uns Vertreter des Bundesamts für Wohnungswesen, das ebenfalls beteiligt war, eine Teilnahme am Europan-Wettbewerb vor. Zusammen mit den Genossenschaften hat sich die Idee konkretisiert.

Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit?

S.G.: Zwischen den Genossenschaften vom Geyisried hatte es bis dahin kaum eine Zusammenarbeit gegeben. Um alle an einen Tisch zu bringen, war viel Überzeugungsarbeit nötig; dafür haben sich einige Genossenschaftsvertreterinnen und -vertreter stark eingesetzt. Am Anfang ging es vor allem darum, uns kennen zu lernen und gemeinsam zu klären, wie wir das Projekt organisieren und finanzieren.
D.F.: Ich hatte den Eindruck, dass sich die Genossenschaften vorher nicht in die Karten schauen lassen wollten. Sie verhielten sich ein bisschen wie Rivalen: Jede war vor allem daran interessiert, ihre Wohnungen zu vermieten. Der Startschuss für den intensiven Austausch fiel im Rahmen der ersten Workshops, die das Kompetenzzentrum gemeinnütziger Wohnungsbau vorbereitete und moderierte. Wir schlossen mit der Stadt eine Planungsvereinbarung ab, holten die Bedürfnisse der Genossenschaften ab und entwickelten eine gemeinsame Vision für ein lebendiges Quartier, die als Grundlage für das Wettbewerbsprogramm diente.

Sarah Gäumann ist Raumplanerin ­MSc ETH und Co-Leiterin der Dienststelle Planung und Stadtraum bei der Stadt­planung Biel. Sie begleitet die Quartier­entwicklung im südlichen Geyisried als Projektleiterin seitens der Stadt Biel.
Daniel Frey ist Vertreter der Genossenschaften im Steuerungsteam Europan, selbständiger Architekt und Vorstands­mitglied einer Genossenschaft.

Wie viel Zeit gaben Sie sich für den ganzen Prozess?

S.G.: Wir diskutierten etwa ein Jahr, bis das Wettbewerbsprogramm stand. Wir standen unter Zeitdruck, weil wir uns an die Fristen von Europan halten mussten. In dieser Zeit fand auch der partizipative Prozess für die Ausarbeitung der Vision statt.

Welche Wünsche fürs Quartier formulierten Sie in der Vision?

S.G.: Wir möchten ein lebendiges, vielfältiges und grünes Geyisriedquartier. Ein Quartier, in dem verschiedenste Haushaltsformen und Personen ein Zuhause finden, in dem gewohnt, aber auch gearbeitet und eingekauft wird und in dem man sich in attraktiven Aussenräumen begegnen kann.
D.F.: Wir merkten an den Workshops, dass viele sich danach sehnen, in einem lebhaften Umfeld zu wohnen. Eigentlich orientieren wir uns am Ideal eines belebten Dorfes, wie man es früher kannte: Wo die Leute arbeiten und in der Freizeit zusammenkommen, wo immer etwas läuft. Heute ist das leider nicht mehr der Fall – Cafés oder Kindertagesstätten oder Angebote wie Ateliers fehlen ganz. Ausserdem zerschneidet die Orpundstrasse das Quartier, und der neue Autobahnanschluss hat zu mehr Verkehr und Lärm geführt. Das sind Nachteile, für die man jetzt Lösungen sucht.

Am Wettbewerb haben sechzehn Planungsteams aus Europa Vorschläge zur Entwicklung des Geyisried eingereicht, zwei von ihnen hat die Jury zu Siegern erkoren. Wie haben die Architekturbüros Ihre Vision umzusetzen versucht?

D.F.: Jedes Büro präsentierte eine ganz eigene Sammlung an Ideen und versuchte unsere Wünsche in ein Gesamtkonzept zu integrieren. So sind viele gute Ansätze zusammengekommen, auch wenn die perfekte Antwort nicht dabei war – gerade, was zum Beispiel die Strasse und den Lärm anbelangt.
S.G.: Spannend ist, dass man den Teams im Europan-Wettbewerb offenlässt, worauf sie ihren Fokus legen. Das sieht man bei den Siegerteams, die auf verschiedenen Ebenen ansetzten. Das eine beschäftigt sich stark mit den bestehenden Gebäuden und ihren Grundrissen, also damit, wie sie erneuert werden können und wie man eine soziale und nutzungsspezifische Durchmischung fördern kann. Diese Auseinandersetzung mit dem Bestand ist für uns wichtig, weil man im Geyisried nicht Tabula Rasa machen und alles auf einen Schlag neu bauen kann und will. Das andere Siegerprojekt fokussiert auf die Quartierebene und die bessere Vernetzung und Gestaltung der Freiräume mit dem Ziel, mehr Begegnungen zwischen den Bewohnenden zu ermöglichen.

Wie soll das konkret gelingen?

S.G.: Das Team schlägt unter anderem vor, die bestehenden Freiräume mit einem Rundweg zu verbinden, sie attraktiver zu gestalten und so das Quartier gewissermassen «zusammenzubinden».
D.F.: Diese Idee gefällt mir auch besonders gut. Schon jetzt gibt es im Quartier viele schöne Aussenräume, aber eine Verbindung fehlt ganz. Auf einem Rundweg könnte man eine Runde joggen oder mit dem Hund spazieren und käme an allen Plätzen vorbei, an denen etwas los ist. Das andere Siegerprojekt schlägt spannende Aufstockungen, Anbauten, Vor- und Verbindungsbauten an den Bestandsgebäuden vor.

Inwiefern fliessen die Wettbewerbs- und Siegerbeiträge jetzt in die weitere Planung des Geyisried mit ein?

S.G.: Die beiden Siegerprojekte liefern viele gute Ideen, sie sind aber nicht die einzigen. Unser Ziel war, von den 16 Projekten die besten Ideen herauszupicken, die bei der weiteren Bearbeitung nützlich sind. Und da ist die Palette wirklich gross.
D.F.: Für mich haben schon die Siegerprojekte die spannendsten Ansätze hervorgebracht. Aber wir werden jetzt alle Beiträge diskutieren und analysieren und die besten als Basis für ein Quartierentwicklungskonzept verwenden, das die gegebenen Strukturen und die Bestandsbauten berücksichtigt und auch die Bedürfnisse der Bewohner integriert. Wichtig ist, dass wir nicht auf der theoretischen Ebene bleiben: Wir müssen die Realität mit einbeziehen und definieren, welche Häuser wir erhalten und welche einem Neubau weichen müssen. Dafür braucht es einen Ansatz, hinter dem alle stehen können.


«Im Geyisried will und kann man nicht Tabula Rasa machen.»


Was sind die nächsten Schritte?

S.G.: Ziel ist, ein Quartierentwicklungskonzept zu erarbeiten. Es soll als Grundgerüst für die Erneuerung des Quartiers durch die Genossenschaften dienen, aber auch für Projekte der Stadt, was zum Beispiel Frei- oder Strassenräume anbelangt. Danach wird es wahrscheinlich eine Anpassung der baurechtlichen Vorgaben geben. Natürlich wird es auch die Aufgabe der Genossenschaften sein, sich mit ihrem Bestand genauer auseinander zu setzen und dabei hoffentlich die eine oder andere Idee aus dem Wettbewerb anzuwenden.

Es kommt nicht häufig vor, dass sich Vertreterinnen und Vertreter so vieler Wohnbaugenossenschaften und der Stadt an einen Tisch setzen. Wo sehen Sie die grössten Chancen dieser Zusammenarbeit?

S.G.: Ein Vorteil ist zum Beispiel, dass in Zukunft nicht jede Genossenschaft ihren eigenen Grill- oder Spielplatz baut, sondern dass man gerade Freiräume gemeinsam nutzt. Es lohnt sich auch, wenn die Genossenschaften ihr Wohnungsangebot aufeinander abstimmen. Als Grundeigentümerin und Planungsbehörde sind wir natürlich daran interessiert, das Quartier zukunftsfähig weiterzuentwickeln und attraktiven bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Dass die Bedürfnisse der Gebäudebesitzer, der Bewohnerinnen und Bewohner und der öffentlichen Hand schon in einer so frühen Planungsphase abgestimmt werden konnten, ist eine grosse Chance.
D.F.: Bis vor kurzem war sich keine Genossenschaft gewohnt, für das ganze Geyisried zu denken. Jetzt ist das anders. Die grösste Chance ist also, dass wir inzwischen acht Baugenossenschaften sind, die im selben Boot sitzen und in dieselbe Richtung rudern. Wir haben gemerkt, dass wir im Quartier mehr erreichen können, wenn wir an einem Strick ziehen und zusammen einen roten Faden entwickeln. Wir haben eine Zusammenarbeitsvereinbarung unterschrieben und eine gemeinsame Plattform kreiert, auf der alle Beteiligten ihre Ideen hochladen und zusammenarbeiten können. Mein persönliches Ziel ist, auch noch die neunte Baugenossenschaft ins Boot zu holen.

Worin bestehen besondere ­Herausforderungen?

S.G.: Dass so viele Leute am Prozess beteiligt sind, ist organisatorisch nicht ganz einfach. Ausserdem ist es ein langer Prozess; uns ist wichtig, dass die Beteiligten unterwegs nicht «abgehängt» werden.
D.F.: Eine grosse Herausforderung ist, die gegebenen Strukturen im Quartier zu berücksichtigen und ihnen gerecht zu werden. Mein Ziel ist aber auch, alle Genossenschaften sicher im Boot zu behalten und dafür zu sorgen, dass niemand das Interesse an der Sache verliert. Es geht also darum, bei den Beteiligten noch mehr Begeisterung zu schaffen, sie zu motivieren, mit der Plattform zu arbeiten, sich noch stärker auszutauschen und an der Sache dranzubleiben. Ein ganzes Quartier neu zu gestalten, ist eine gewaltige Aufgabe, aber auch sehr spannend.

Vor fünfzehn Jahren gehörte noch jede fünfte Wohnung in der Stadt Biel einer Baugenossenschaft. Seither ist der Marktanteil der Genossenschaften auf 13,7 Prozent gesunken. Wie ist es zu diesem Einbruch gekommen?

S.G.: Soweit wir dies beurteilen können, liegt das vor allem an der starken Bautätigkeit von anderen, nicht genossenschaftlichen Investoren. Es wurden in den letzten zwanzig Jahren viele Wohnungen gebaut, grösstenteils durch Private oder institutionelle Anleger. Genossenschaftliche Neubauten gab es in dieser Zeit in der Stadt Biel nur wenige. Gleichzeitig schrumpft auch die Wohnungszahl der Genossenschaften im Bestand tendenziell, da Wohnungen zusammengelegt werden.
D.F.: Die Genossenschaften in Biel arbeiten meist mit Laiengremien und trauen sich nicht an Neubauten heran. Daher entstanden auch kaum neue Genossenschaftswohnungen.

Was tut die Stadt heute, um das genossenschaftliche Wohnangebot zu fördern?

S.G.: 2016 hat der Stadtrat ein Reglement zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus beschlossen. Darin wird einerseits das Ziel gesetzt, dass der Anteil Wohnungen gemeinnütziger Bauträger bis 2035 auf mindestens zwanzig Prozent erhöht werden soll. Andererseits schafft das Reglement die Basis für die Erteilung von Baurechten an gemeinnützige Wohnbauträger zu günstigeren Konditionen und für die Mitfinanzierung von gemeinsamen Planungsvorhaben. Die Planung im südlichen Geyisried mit der Teilnahme an Europan 16 ist dafür ein gutes Beispiel.

Was ist Europan?

Europan ist ein internationaler Ideenwettbewerb im Bereich Architektur und Städtebau, an dem junge Berufsleute unter 40 Jahren alleine oder in Teams teilnehmen können. Ziel ist es, innovative Ansätze für die Weiterentwicklung bestehender Gebiete zu entwickeln. Europan bietet Städten und Bauherren neue Lösungen für die lokale Stadtentwicklung und jungen Planerinnen und Planern die Möglichkeit, sich national und international zu vernetzen. Das Resultat ist kein fertiges Projekt, das direkt umgesetzt werden kann; vielmehr geht es um die Kreation von Ideen und Stossrichtungen zur weiteren Planung. Dabei schreiben die interessierten Partnerstädte konkrete Standorte aus, die häufig nach unkonventionellen Lösungen rufen. An den Wettbewerben sind jeweils über 50 europäische Städte und mehr als 1000 Teams beteiligt.