Interview mit Michael Künzle, Stadtpräsident Winterthur

«Wir wollen eine durchmischte Stadt»

Die Stadt Winterthur ist auf Wachstumskurs. Warum das so ist, weiss niemand besser als der Stadtpräsident Michael Künzle. Er verrät auch, warum die Baugenossenschaften für die weitere Entwicklung der Stadt wichtig sind – und wo sie dereinst zum Zuge kommen könnten.

Interview: Richard Liechti | Bilder: Andreas Mader, zVg | November 2020

Wohnen: Winterthur ist eine ausgesprochene Wohnstadt. In keiner anderen grossen Schweizer Stadt klafft das Verhältnis zwischen Arbeitsplätzen und Einwohnern so weit auseinander. Gleichzeitig verzeichnen Sie ein starkes Bevölkerungswachstum. Warum ist Winterthur als Wohnstadt derart beliebt?

Michael Künzle: Es ist eine Tatsache: Winterthur wächst, und zwar jedes Jahr um etwa 1500 Menschen. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass wir mit über 115 000 Einwohnerinnen und Einwohnern zwar eine Grossstadt sind, aber eine sehr hohe Lebensqualität bieten. Wenn man nur schon schaut, wie grün diese Stadt ist, wie viele Parkanlagen sie hat und wie nah die Erholungszonen liegen! Ich denke aber auch an die Bildungs- und Kulturstadt Winterthur. Und Winterthur ist ausgezeichnet erschlossen, liegt nah bei der Stadt Zürich und dem Flughafen. All diese Stärken tragen dazu bei, dass viele Menschen nach Winterthur ziehen wollen – was uns natürlich freut.

Trotzdem steht das Thema «Arbeitsplätze» ganz oben auf Ihrer Agenda.

Auf der anderen Seite ist es eben eine grosse Herausforderung, dafür zu sorgen, dass wir nicht nur Wohnstadt sind. Auch attraktive
Arbeitsplätze gehören zur Lebensqualität. Deshalb möchten wir mehr Arbeitsplätze schaffen und dieses Ungleichgewicht korrigieren. Eine hohe Lebensqualität ist ein wichtiger Standortfaktor für Unternehmen.

Winterthur gilt gerade im Vergleich zum teuren Zürich als relativ günstige Wohnstadt. Aber auch hier haben die Mieten und Immobilienpreise in den letzten Jahren angezogen, und die Leerwohnungsziffer ist jüngst gesunken. Wie schätzen Sie die Situation auf dem Winterthurer Wohnungsmarkt ein?

Da die Stadt Zürich ein höheres Preisniveau und eine grosse Herausforderung hinsichtlich innerer Verdichtung hat, weichen tatsächlich immer wieder Menschen nach Winterthur aus. Dadurch ziehen die Mieten auch bei uns an, wie wir in den letzten Jahren beobachten konnten. Wichtig ist, dass wir auch in Zukunft ein Wohnangebot in den verschiedenen Segmenten haben. Wir wollen eine durchmischte Stadt, wo für alle etwas Erschwingliches dabei ist. Ich denke, da ist Winterthur gut unterwegs.

Michael Künzle (55) hat an der Universität Zürich Rechtswissenschaft studiert und war unter anderem als Bezirks- und Staatsanwalt tätig. Von 1999 bis 2005 vertrat er seine Partei, die CVP, im Grossen Gemeinderat Winterthur, von 2001 bis 2005 als Fraktionschef. 2005 wählten ihn die Winterthurerinnen und Winterthurer in den Stadtrat, wo er von 2005 bis 2012 Vorsteher des Departements Sicherheit und Umwelt war. Seit 2012 amtiert er als Stadtpräsident und Vorsteher des Departements Kulturelles und Dienste und wurde zuletzt 2018 im Amt bestätigt.

Tatsächlich wird in Winterthur auch viel gebaut.

Wir haben im Wohnbereich eine enorm rege, ungebrochene Bautätigkeit – und wir merken, dass alles, was gebaut wird, vom Markt gleich wieder aufgesogen wird. Die Investoren kommen deshalb gern nach Winterthur. Viele Projekte sind aber auch möglich geworden, weil Winterthurer Institutionen bereit waren, Geld in die Hand zu nehmen und sich hier zu engagieren. Dazu zählen natürlich auch die Baugenossenschaften mit ihren zahlreichen Neubauprojekten.

Stichwort «Baugenossenschaften». Ihr Marktanteil beträgt in Winterthur gut elf Prozent. Welche Bedeutung haben die Baugenossenschaften für Ihre Stadt?

Die Baugenossenschaften sind sehr wichtige Ansprechpartner für die Stadt. Sie decken längst nicht mehr nur das günstige Segment ab, sondern schaffen mit ihren Neubauten Wohnraum für den Mittelstand. Wir schätzen es auch, dass sie neue Ansätze entwickeln, etwa Wohnformen, die Alt und Jung zusammenbringen. Und sie tragen dazu bei, Menschen in prekären Verhältnissen in den normalen Wohnungsmarkt zu integrieren. Aus all diesen Gründen will die Stadt mit den Baugenossenschaften zusammenarbeiten und hat dies auch in ihrer Wohnstrategie festgehalten.

Wie beurteilen Sie die Bautätigkeit der Winterthurer Baugenossenschaften?

Es gab eine Phase, wo sie eher zurückhaltend waren. Heute dagegen kann ich den Winterthurer Baugenossenschaften nur ein Kränzchen winden. Ein Projekt hat sozusagen das nächste abgelöst. Ich kann hier nicht alle aufzählen: das Mehrgenerationenhaus Giesserei, die neuen Genossenschaftswohnungen in der Lokstadt, das innovative Altersprojekt Zusammenhalt. Und weitere kommen hinzu: die grosse, prägnante Überbauung Vogelsang der GWG, die mit ihrer Lage am Hang oberhalb der Stadteinfahrt ein echtes Aushängeschild für die Baugenossenschaften wird, oder die Überbauung Busdepot Deutweg, die drei gemeinnützige Bauträger dank einem Baurecht der Stadt entwickeln.


«Ich finde es richtig, dass wir die Baugenossen­schaften unterstützen.»


In den meisten grossen Schweizer Städten sind in den letzten Jahren Initiativen zur Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus lanciert und mit grossem Mehr angenommen worden. Das hat in Städten wie Bern oder Zürich dazu geführt, dass verbindliche Ziele für den Anteil des gemeinnützigen Wohnungsbaus festgelegt wurden und die Förderung tatsächlich stark ausgebaut wird. In Winterthur dagegen gab es keine solche Entwicklung.

Ich finde es richtig, dass wir die Baugenossenschaften unterstützen. Die Regierung hat dem Stimmvolk deshalb vor einigen Jahren den Vorschlag unterbreitet, einen 10-Millionen-Förderkredit für die Baugenossenschaften zu sprechen, der auch genehmigt wurde. Gleichzeitig arbeiten wir auch projektbezogen immer wieder mit gemeinnützigen Bauträgern zusammen. Das ist vielleicht mit ein Grund, dass es in Winterthur keine weitergehenden Initiativen gab. Weil die Leute sahen: Doch, die machen etwas.

Bei allem Lob: Haben Sie auch einen Wunsch an die Genossenschaften?

Mein Wunsch wäre, dass sie so voller Power weitermachen wie jetzt. Und dass diejenigen, die noch zurückhaltend sind, sich davon anstecken lassen.

Das zentrale Sulzer-Areal in Winterthur gilt als vorbildlich für den Umgang mit alten Industriequartieren. Tatsächlich blieb der industrielle Charme erhalten, und dank dem Mix aus Bildungsstätten, Arbeit, Wohnen und Kultur ist ein lebendiges Quartier entstanden. Wie ist dies gelungen?

Die Umnutzung des Sulzer-Areals Stadtmitte hat eine jahrzehntelange Vorgeschichte und wurde erst dank richtigen Entscheiden unserer Vorgänger möglich. Wichtig war, dass man mit allen Beteiligten Vereinbarungen treffen konnte – etwa darüber, welche Teile geschützt werden, welche Industriedenkmäler man erhalten will, was öffentlich sein soll, wo welche Nutzung hinkommt. Das haben unsere Altvorderen ausgezeichnet aufgegleist, so dass wir nun bei der Umsetzung so gut unterwegs sind. Das bedeutet, dass tatsächlich ein modernes Stadtquartier entsteht, wo man wohnt, arbeitet, die Freizeit verbringt, sich weiterbildet. Hier spielt natürlich die Fachhochschule eine grosse Rolle, aber auch andere Bildungseinrichtungen sind hierher gezogen. So wie früher die Scharen von Arbeitern beim Schichtwechsel beobachtet man heute die morgendlichen Pilgerströme der Studierenden und der Schülerschaft vom Bahnhof zum Sulzer-Areal.

Auch auf einem anderen Sulzer-Areal am Stadtrand entsteht ein neuer Stadtteil. In Neuhegi sind bisher vor allem grosse Wohnsiedlungen erstellt worden. Doch trotz neuem Park fehlt noch das geschäftige Flair eines Quartiers.

Wir wussten, dass es in Neuhegi Zeit braucht, bis ein solches Quartier funktioniert. Die Stadt hat deshalb auch die Halle 710 direkt beim neuen Eulachpark erworben, die als vielfältiges Quartierzentrum dient. Nicht überraschend sind in Neuhegi zuerst Wohnungen gebaut worden, während die Arbeitsplätze nur zögerlich entstehen. Das Gewerbe, insbesondere die Gastronomie, isst deshalb in Neuhegi noch hartes Brot. Es sollte aber durchhalten, denn ich bin überzeugt, dass dies ein wunderbares Quartier wird.

Wie geht es weiter? Stehen in Winterthur noch mehr grosse Entwicklungsprojekte an, bei denen auch die Baugenossenschaften zum Zuge kommen könnten?

Neben verschiedenen kleineren Entwicklungsgebieten – auch im Zentrum – sind hier sicher das Gebiet um den Bahnhof Grüze oder das Rieter-Areal im Gebiet Töss zu nennen. Das ist ein riesiges Industrieareal, das die Grundeigentümerin Rieter mit der Stadt zusammen entwickeln will. Die zukünftige Nutzung ist aber noch völlig offen. Vielleicht wird es für die Baugenossenschaften eine Chance sein. Mit dem Projekt «Winterthur 2040» werden momentan die Leitlinien für die zukünftige räumliche Entwicklung der Stadt festgelegt. Möglichst gemischte Nutzungen sind erstrebenswert.