Rubrik: Recht

Wenn Lärm Bauvorhaben verhindert

Das Bundesgericht hat die in einigen Kantonen bisher angewandte «Lüftungsfenster­praxis» als unzulässig eingestuft. Ein Bauvorhaben war damit nicht bewilligungsfähig. Generell bestehen bei Neubauten strenge Vorgaben bezüglich Lärmschutz.

Die Verkehrswege werden stetig ausgebaut. Der daraus resultierende Verkehrslärm einerseits und die aus raumplanerischer Sicht gebotene verdichtete Bauweise anderseits führen zu häufigen Konflikten. Insbesondere bei Baugenossenschaften in Agglomerationen sind im Zusammenhang mit Flug- und Strassenlärm zunehmend Schallschutzmassnahmen notwendig.1
Zu unterscheiden ist zunächst zwischen dem öffentlich-rechtlichen und dem privatrechtlichen Lärmschutz nach Art. 684 ZGB, wonach jedermann verpflichtet ist, bei der Ausübung seines ­Eigentums sich aller übermässigen Einwirkungen auf das Eigentum des Nachbarn zu enthalten. Der öffentlich-rechtliche Lärmschutz, der im Umweltschutzgesetz2 und in der Lärmschutz-Verordnung3 geregelt ist, berücksichtigt auch die Auswirkungen des Lärms auf Personengruppen mit erhöhter Empfindlichkeit und ist damit strenger als das Privatrecht, das auf den Massstab des Empfindens eines Durch­schnittsmenschen abstellt.4 Bei Bauvorhaben sind deshalb die öffentlich-rechtlichen Lärmvorschriften zu beachten. Sodann ist der hier interessierende Aussenlärm vom Innenlärm der Haustechnik, zum Beispiel einem lauten Aufzug, abzugrenzen. Der Schallschutz gegen Innenlärm richtet sich aufgrund des Verweises in Art. 32 Abs. 1 LSV nach der Norm SIA 181.

Relevanter Lärm
Das Umweltschutzgesetz und die Lärmschutz-Verordnung befassen sich hauptsächlich mit dem Schutz vor Lärm, der beim Bau oder Betrieb von ortsfesten Anlagen entsteht.5 Ortsfeste Anlagen sind Bauten, Verkehrsanlagen und andere nicht bewegliche Einrichtungen, die beim Betrieb Aussenlärm erzeugen.6 Dazu gehören Strassen, Eisenbahnanlagen, Flugplätze, Industrie- und Gewerbe- sowie Schiessanlagen. Der von Kindern auf einem Spielplatz eines Wohnhauses erzeugte Lärm wird der ortsfesten Anlage zugeordnet und als von einer Anlage ausgehende Einwirkung betrachtet. Kinderlärm gilt aber in Wohngebieten nicht als störend beziehungsweise gehört er zur Wohnzone und wird deshalb nicht als übermässiger Lärm angesehen.7

Grenzwertüberschreitung
Zu laut und damit unzulässig ist eine Anlage, wenn sie die in der Lärmschutz-Verordnung festgelegten Grenzwerte überschreitet. Die Intensität des Lärms wird in Dezibel (dB[A]) gemessen, wobei sie sich mit der Zunahme um zehn Dezibel verdoppelt.8 Sehr leise Geräusche wie Flüstern oder Blätter­rauschen befinden sich im Bereich bis 30 dB(A). Ab 55 dB(A) können sich betroffene Bewohner erheblich gestört fühlen. Eisenbahn- und Strassenverkehrs­lärm erzeugen etwa 65 dB(A), ein Grossraumflugzeug im Abstand von 250 Metern gegen 110 dB(A).9

Lärmempfindlichkeitsstufen
Das Gesetz unterscheidet Lärmimmissionen nach deren Quelle (etwa Strassenverkehrs-, Industrie-, Schiesslärm) und gliedert sie nach den Empfindlichkeitsstufen I bis IV für die unterschiedlich lärm­empfindlichen Baunutzungszonen.10

Das Umweltschutzgesetz nennt im Zusammenhang mit Lärm drei Werte. Zunächst dient der Planungswert als Projektierungshilfe zur Festlegung der Emis­sionsbegrenzung bei neuen Anlagen.11 Neue Bauzonen für Wohngebäude dürfen nur in Gebieten vorgesehen werden, in denen die Planungswerte nicht überschritten werden oder durch planerische, gestalterische oder bauliche Massnahmen eingehalten werden können.12

Der Immissionsgrenzwert soll die Bevölkerung vor schädigendem oder lästigem Lärm schützen: Wenn er eingehalten wird, wird die Bevölkerung in ihrem Wohlbefinden nicht erheblich gestört.13
Schliesslich ist der Alarmwert, der über dem Immissionsgrenzwert liegt, in erster Linie Massstab für die Dringlichkeit von Sanierungen oder für Ersatzmassnahmen bei bestehenden Anlagen.14 Die Überschreitung des Alarmwerts wird bei bestehenden Gebäuden geduldet. Für neue Gebäude mit lärmempfindlichen Räumen hat die Überschreitung jedoch ein faktisches Bauverbot zur Folge.15 ­Immissionsgrenz-, Planungs- und Alarmwerte werden je nach Tageszeit, Lärm­art und -empfindlichkeit der zu schüt­zenden Gebäude und Gebiete in der Lärmschutz-Verordnung festgelegt.16 Der Planungswert liegt normalerweise bei 50 dB(A), während der Immissionsgrenzwert 55 dB(A) und der Alarmwert 65 dB(A) beträgt.17 Bei allen Grenzwerten ist der Nachtwert jeweils um 5 bis 10 dB(A) niedriger, da zu dieser Zeit ein erhöhtes Ruhebedürfnis besteht.
Ob entlang von Strassen oder im Flughafenbereich die Grenzwerte überschritten werden, kann aufgrund der Karten «Strassenlärm» bzw. «Fluglärm»18 im GIS-Browser festgestellt werden. In kritischen Fällen sollte zudem ein Umweltingenieur zur Lärmmessung beigezogen werden.

Begrenzungsmassnahmen
Zur Reduktion des Lärms sind verschiedene Massnahmen vorgesehen. In einem ersten Schritt soll der Lärm an der Quelle begrenzt werden.19 Emissionsbegrenzungen können zudem durch technische, bauliche, betriebliche sowie verkehrslenkende Massnahmen an Anlagen oder bauliche Massnahmen auf dem Ausbreitungsweg des Lärms erfolgen.20 Beispielsweise können vielbefahrene Strassen mit einem «Flüsterbelag» asphaltiert werden.21 Weitere Massnahmen sind etwa Temporeduktionen, eine lärmabsorbierende Fassadengestaltung, feste Balkonbrüstungen oder Lärmschutzwände.
Die Anforderungen an den Lärmschutz sind aber nicht in Stein gemeisselt. Es gibt durchaus Spielraum für Interessenabwägungen, insbesondere im Hinblick auf gestalterische Massnahmen.22

«Lüftungsfensterpraxis» unzulässig
In einem kürzlich ergangenen Entscheid, der eine Baugenossenschaft betraf,23 ging es um die Frage, ob die sogenannte Lüftungsfensterpraxis, die in mehreren Kantonen angewendet wird, zulässig sei. Beim Bauen in lärmvorbelasteten Gebieten ist die Frage zentral, ob bei einem Neubau die bundesrechtlichen Immis­sionsgrenzwerte bei allen Fenstern oder nur bei einem einzigen Fenster, nämlich einem sogenannten Lüftungsfenster, eingehalten werden müssen.
Nach Art. 39 Abs. 1 LSV werden die Lärmimmissionen bei Gebäuden in der Mitte der offenen Fenster lärmempfindlicher Räume, zum Beispiel Schlafzimmer, ermittelt. Nach der in Zürich und in einigen anderen Kantonen üblichen «Lüftungsfensterpraxis» musste der Immis­sionsgrenzwert nicht bei jedem Fenster eingehalten sein. Nach dieser Praxis genügte es, wenn bei jedem lärmempfindlichen Raum lediglich ein Fenster geöffnet werden konnte, ohne dass im jeweiligen Raum eine über der Grenze zur Schädlichkeit oder Lästigkeit liegende Belästigung eintrat.
Die sich eng am Wortlaut orientierende Auslegung von Art. 39 Abs. 1 LSV des Bundesgerichts ergab, dass die «Lüftungsfensterpraxis» Art. 39 Abs. 1 LSV widerspricht und die Immissionsgrenzwerte an sämtlichen Fenstern von lärmempfindlichen Räumen eingehalten werden müs­sen.24 Das Bauvorhaben war deshalb aus lärmschutzrechtlicher Sicht nicht bewilligungsfähig.

Fazit
Zu hinterfragen ist, ob die Bestimmung in Art. 39 Abs. 1 LSV, wonach die Lärmimmissionen in der Mitte der offenen Fenster lärmempfindlicher Räume ermittelt werden sollen, praxistauglich ist, zumal diese Messweise sogar bei Fenstern, die nicht geöffnet werden können25, angewendet wird. Die verkehrsbedingte Lärmzunahme sowie die strenge Lärmschutzpraxis werden zur Folge haben, dass der Lärm noch intensiver bei der Quelle bekämpft werden muss, etwa durch «Flüsterbeläge», Temporeduktionen, Umfahrungsstrassen oder als unästhetisch empfundene Lärmschutzwände.

  1. Vgl. 137 II 58 betr. vorläufiges Betriebsreglement für den Flughafen Zürich sowie 1C_317/2015 vom 10. August 2016 in Sachen Ringling, Zürich Höngg
  2. Bundesgesetz über den Umweltschutz (USG; SR 814.01)
  3. Lärmschutz-Verordnung (LSV; SR 814.41)
  4. BGE 126 III 223 E. 4.
  5. Art. 7 Abs. 1 und Abs. 7 USG
  6. Art. 2 Abs. 1 LSV
  7. BGer 1A.167/2004 vom 28. Februar 2005 E. 4.2.1
  8. Vgl. «Lärmbelastung der Schweiz», Bundesamt für Umwelt (BAFU), S. 15; Bezug: www.bafu.admin.ch
  9. A.a.O. S. 16
  10. Art. 43 LSV
  11. Art. 23, 24, 25 Abs. 1 USG
  12. Art. 24 Abs. 1 USG
  13. Art. 13 und 15 USG
  14. Art. 19 USG
  15. Vgl. Art. 31 Abs. 1 LSV
  16. Vgl. die Anhänge 2-7 zur LSV
  17. A.a.O.
  18. http://maps.zh.ch/
  19. Art. 7 LSV
  20. Art. 2 Abs. 3 LSV
  21. Vgl. «Leitfaden Strassenlärm», Bundesamt für Umwelt (BAFU), S. 23; Bezug: www.bafu.admin.ch
  22. Vgl. Art. 10 und 15 LSV
  23. BGer 1C_317/2015 vom 10. August 2016 in Sachen Ringling, Zürich Höngg
  24. BGer 1C_317/2015 vom 10. August 2016 in Sachen Ringling, Zürich Höngg, E. 3.6.
  25. BGer 1A.139/2002 vom 5. März 2003, E. 5.4.

Thomas Elmiger,

Rechtsdienst

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