Spiel und Sport in Genossenschaftssiedlungen
Boccia, Rundlauf und Rasendisco
Wer sich am Pingpongtisch, auf der Bocciabahn oder am Spielabend in der Wohnsiedlung mit anderen misst, hat Spass, hält sich fit und leistet einen Beitrag zu einer guten Nachbarschaft. Mit niederschwelligen Spiel- und Sportangeboten fördern Wohnbaugenossenschaften auch das soziale Miteinander.
Text: Patrizia Legnini | Fotos: Stefano Schröter, zVg | 2024/01
Mit einer guten Geschwindigkeit rollt die blau gesprenkelte Bocciakugel über die Bahn und trifft Sekunden später frontal auf den «Pallino», die kleine Setzkugel. Ein Raunen geht durch die Gruppe von Bocciaspielerinnen und -spielern, die an diesem sonnigen Montagabend auf der Bocciabahn im Zürcher Friesenbergquartier stehen. Doch Schiedsrichter Rolf Baumann winkt auf der anderen Seite mit dem Messstab und erklärt den Wurf kurzerhand für ungültig. «Nulla!», ruft er aufgeregt. Die Kugel hat den Pallino zu weit wegkatapultiert; der Punkt geht an das andere Team. Baumann setzt die verschobene Setzkugel an ihre Position zurück und entfernt die gespielte Bocciakugel. Dann gönnt er sich einen Schluck vom «Röteli», den die Mutter eines Vereinsmitglieds von den Skiferien in Arosa mit nach Zürich gebracht hat.
Dass Baumann mit dem Schnapsglas auf der Bahn steht, ist eigentlich ein No-Go, eine absolute Ausnahme. Aber weil die neue Spielsaison noch nicht begonnen hat, ist an diesem frühen Abend im März alles doch etwas anders als an normalen Trainingstagen. «Wir wollen halt weder Scherben noch Unfälle auf der Bahn. Aber natürlich sind hier auch schon Leute über die Banden gestolpert, die nichts getrunken hatten», sagt Bocciaspielerin Anne Wyss und lacht.
Frischer Wind dank Lockdown
Wyss und ihre Kolleginnen und Kollegen vom Bocciaclub FGZ Zürich sind ein freundliches, ein fröhlich-buntes Grüppchen; jede und jeder hat einen guten Spruch parat. Der eine war früher DJ und Sänger in einer Punkrockband, die anderen verdien(t)en ihr Geld etwa in der Pflege, als Laufbahnberater oder als Bankerin. Viele sind schon pensioniert und wohnen ganz in der Nähe, unter anderem in den Häusern der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ). Einige kennen sich seit Kindertagen. Und die Freude über das Wiedersehen nach dem Winter ist ihnen anzumerken.
Etwa 35 Aktiv- und nochmals so viele Passivmitglieder zählt der Bocciaclub, der das Areal im idyllischen Grünzug eines Bachtobels mitten im Wohnquartier am Fusse des Uetlibergs betreibt. Die meisten von ihnen sind über 35 Jahre alt. Die offene Naturbocciabahn, die den Mitgliedern zur Verfügung steht, ist eine der letzten im Kanton – und eine mit langer Geschichte: Es gibt sie seit bald neunzig Jahren. 1937 unterstützte die FGZ fünf Genossenschaftsmitglieder, die eine Bocciavereinigung gegründet hatten, beim Bau der Bocciabahn mit Geräteraum. Und bis heute beteiligt sich die Genossenschaft jedes Jahr mit einem Geldbetrag an den aufwändigen Arbeiten an Bahn und Clubhaus. Das Gärtnerteam pflegt derweil die Sträucher und Stauden auf dem Areal. Für den Fototermin war Schiedsrichter und Kassier Baumann an diesem Tag über drei Stunden damit beschäftigt, die Bahn mit Rechen und Bläser vom Winterlaub zu befreien. Jetzt steht er hinter dem rauchenden Grill und verteilt Bratwürste an die Spieler:innen, die sich inzwischen an einen Gartentisch gesetzt haben.
Dass sie hier Zeit miteinander verbringen und sich sportlich betätigen können, bedeutet ihnen viel. «Man ist beim Bocciaspielen immer in Bewegung. Man trainiert sein Gleichgewicht und die Konzentration», sagt Natascha Baumann. «Es geht uns ums Spiel, um die Präzision, aber eben auch ums Gesellige», ergänzt Nico Bucher, der Präsident. Ihm zufolge ist in den letzten fünf Jahren viel frischer Wind in den Bocciaclub gekommen – nicht zuletzt dank des Corona-Lockdowns. «Mit etwas Abstand auf der Bahn konnten wir damals trotzdem Boccia spielen. Das hat den Leuten gut getan.» Im Sommerhalbjahr treffen sich die Aktiven hier mittwochs zum Training und an weiteren Daten zu Turnieren, Club-Meisterschaften und Festen, an denen das Gesellige im Vordergrund steht. «Mein Mann freut sich jeweils schon am Donnerstag auf das Training vom Mittwoch», sagt Anne Wyss. «Am liebsten würde ich irgendwo eine Hängematte aufhängen und hier übersommern», sagt ihr Mann.
Beim Spielen die Welt entdecken
«Wir sind froh um dieses Spielangebot, das die Genossenschaftskultur beständig belebt», sagt Carla Coester, Bereichsleiterin Soziales und Genossenschaftskultur bei der FGZ. Dass die Bewohnenden in den verschiedenen Wohnsiedlungen Möglichkeiten zum gemeinsamen Spielen und für sportliche Aktivitäten haben und sich auch selbst aktiv einbringen, ist für die Siedlungsgenossenschaft zentral.
Bocciaspielen macht Freude. Aber es ist auch gut fürs Gehirn und das soziale Miteinander. Spielende streiten und versöhnen sich, sie gewinnen und verlieren, sei das beim Jassen, auf der Bocciabahn, beim Rundlauf am Pingpongtisch im Garten oder im Sandhaufen auf dem Spielplatz. Weil Kinder über das Spielen die Welt entdecken, kreativ sein und Freundschaften schliessen können, sorgen Baugenossenschaften in ihren Wohnsiedlungen für Freiräume und schaffen Wiesen oder Spielstrassen, aber auch Laubengänge oder Treppenhäuser zum Spielen und Verweilen. Oft lassen sie die Spielplätze von Kindern und Bewohnenden mitgestalten und verzichten auf den Bau von allzu vielen fix installierten Spielgeräten.
In den Aussenräumen der FGZ-Siedlungen in Zürich stehen den Bewohnenden abgesehen von der Bocciabahn auch Pétanque-, Basketball- und Fussballplätze sowie Tischtennistische zur Verfügung. Sogar ein Outdoor-Gym, eine Slackline, einen Pumptrack und eine Kletterwand können sie nutzen. «Ein Jugendraum, mobile Goals und Basketballkörbe sowie Spielkisten mit Spielsachen könnten das Spielangebot für Kinder und Jugendliche künftig noch erweitern», sagt Coester.
Indoor-Pingpongturnier organisiert
Andere Genossenschaften haben ähnliche Angebote, die fast jederzeit und kostenlos genutzt werden können. Und wenn es nur ein einziger Pingpongtisch an zentraler Lage im Quartier ist: Auch gut. Dort können sich nämlich Grossvater und Enkelin gemeinsam an der Platte treffen. «Pingpong gilt als sanfte Sportart und kann von allen gespielt werden», sagt Mauricio Cayo, der in der Siedlung Stadtgarten 2 der Zürcher Genossenschaft Hofgarten (Geho) wohnt. Er hat dort letztes Jahr ein Indoor-Pingpongturnier organisiert und überlegt sich nun, den Anlass zu wiederholen. Immer mal wieder trifft er sich auch sonst mit Nachbarinnen und Nachbarn zum Pingpongspielen. «Weil meine Kinder noch klein sind, komme ich leider nicht so oft dazu. Aber eigentlich würde ich das gerne häufiger tun.»
Niederschwellige Spiel- und Sportmöglichkeiten fördern auch die Gemeinschaft. «Zeit mit Nachbarinnen und Nachbarn zu verbringen, ist für den sozialen Zusammenhalt in unseren Wohnsiedlungen sehr wichtig», sagt denn auch Boris Deister, Co-Geschäftsführer der Geho. Im Gemeinschaftsraum und an weiteren Orten in der Siedlung am Maneggplatz hat die Geho darum neben einem Pingpongtisch auch einen Tischfussballkasten, einen Billardtisch und einen Flipperkasten aufgestellt. «Miteinander zu spielen ist eine gute Möglichkeit, um andere Leute kennen zu lernen und sich in einer lockeren Atmosphäre auszutauschen», so Deister.
«Gutes Gefäss für Begegnungen»
Dieser Meinung ist auch Cyril Bucher aus dem bernischen Ostermundigen. «Das Spielen macht einen grossen Teil meines Alltags aus», sagt er. Bucher wohnt mit seiner Familie in der Siedlung Oberfeld der gleichnamigen Wohnbaugenossenschaft und ist Mitinhaber des Spielladens Drachenäscht in Bern, wo er auch arbeitet. Bei sich zu Hause, aber auch mit Arbeitskolleginnen und Nachbarn spielt er leidenschaftlich gerne Brett- und Kartenspiele. Seine eigenen Spiele stellt er nicht nur an Spielanlässen seines Ladens, sondern auch am Spielabend zur Verfügung, der vier- bis fünfmal pro Jahr im Gemeinschaftsraum der Wohnsiedlung stattfindet. «Manchmal sind wir dort sechs Leute, oft aber auch sechzehn», so Bucher. Immer wieder würden neben Erwachsenen auch Kinder daran teilnehmen, genauso wie Bewohnerinnen und Bewohner der Nachbarssiedlung.
Bucher schätzt das Zusammensein mit ihnen sehr. Abgesehen davon, dass man beim Spielen in ganz andere Welten eintauchen könne, lerne man die Mitspielenden auch von einer neuen Seite kennen. «Es ist jeweils spannend zu sehen, ob jemand ambitioniert ist oder einfach eine gute Zeit haben möchte.» Der Spielabend sei ein gutes Gefäss für Begegnungen. Dass er in der Siedlung Oberfeld nahezu alle Nachbarinnen und Nachbarn mit dem Namen kennt, habe er jedenfalls an keinem anderen Wohnort je so erlebt. Mit einigen von ihnen sei seine Familie so eng befreundet, dass man auch gemeinsam in die Ferien reise. «Dieses innigere Zusammenleben hat nicht zuletzt den Vorteil, dass man auch in schwierigeren Zeiten füreinander da ist.»
Feierabendduell auf der Wiese
Die Leute im Quartier zusammenzubringen: Darum geht es auch Nadine Bruce, die in der Siedlung Rossfeld der Eisenbahner Baugenossenschaft Bern (EBG) wohnt. Früher hat sie etwa mitgeholfen, auf der Wiese zwischen den Häusern ein Eisfeld anzulegen. Heute stellen sie und ihre Nachbarinnen und Nachbarn dort jeden Freitagabend im Sommer die Tische zusammen und feuern den Grill an. Und manchmal organisiert Bruce dort auch eine Rasendisco. Noch häufiger treffen sich die Bewohnenden aber am Pingpongtisch, für deren Anschaffung sie sich stark machte; den Nachbarinnen und Nachbarn ihres Hauseingangs hat sie letztes Jahr vorgeschlagen, mit dem jährlichen Geldbetrag, den die Genossenschaft zur Verfügung stellt, einen Pingpongtisch anzuschaffen. «Rundherum beteiligten sich die Leute dann aber auch noch privat daran», so Bruce. Seither wird der mobile Tisch sehr oft genutzt, von den Kindern genauso wie von den Erwachsenen. «Manchmal ergibt sich auf der Wiese spontan ein Feierabendduell oder ein gemeinsamer Rundlauf», sagt Bruce. Am meisten freut sie sich jeweils, wenn Leute nach draussen kommen, mit denen sie sonst nicht viel zu tun hat. «Gerade junge Familien sind oft unterwegs. Aber es ist doch auch sehr schön, wenn zu Hause etwas läuft, für das man nicht viel Geld in die Hand nehmen muss.»
Dass sich Bewohnerinnen und Bewohner wie Nadine Bruce so aktiv für das Zusammenleben in ihren Wohnsiedlungen engagieren und ihre Ideen an die Genossenschaft herantragen, schätzt Pascal von Dach, Beauftragter für Kultur und Soziales bei der EBG. «Das ist für uns das A und O.» Das gemeinsame Spielen führe zu mehr Austausch und Zusammenhalt in der Wohnsiedlung und vielleicht auch zu mehr Identifikation mit der Genossenschaft. Dass die Initiative von den Bewohnenden ausgehe, sei dabei besonders wichtig; Spielangebote zur Verfügung zu stellen, die sie nicht benötigen, mache wenig Sinn. «Wenn möglich unterstützen wir solche Initiativen darum gerne. Aus Kleinem entsteht oft Grosses.»