
Wohnraum für Geflüchtete
Ein Zuhause auf Zeit
Seit März haben Wohnbaugenossenschaften keinen Aufwand gescheut, um Wohnungen an ukrainische Geflüchtete abgeben zu können. Und das, obwohl ihre Strukturen eine Aufnahme erschweren. Für viele ist die Solidarität mit Geflüchteten eine neue Erfahrung.
Text: Patrizia Legnini | Fotos: Michele Limina | September 2022
Nur ein paar Tage haben sich Oksana Kostiuk und Manuela Widmer nicht gesehen, jetzt, an einem heissen Tag im Juli, umarmen sich die Nachbarinnen innig, Tränen fliessen. Auf dem Sitzplatz vor dem Haus im zürcherischen Horgen versucht Kostiuk Worte zu finden für das, was sich 48 Stunden zuvor in ihrer Heimatstadt Winnyzja in der Ukraine zugetragen hat. 25 Menschen starben, darunter drei Kinder, als russische Raketen im Stadtzentrum einschlugen – das Video des Mädchens, das kurz vor seinem Tod einen Kinderwagen vor sich herschob, ist um die Welt gegangen. Unter den Todesopfern war auch der Mann von Kostiuks Cousine, der sich vor einem Kulturzentrum aufgehalten hatte. «Ein Junge, der vor einer Arztpraxis auf den Vater oder Onkel gewartet hatte, verbrannte im Auto», sagt Kostiuk, während sie auf dem Handy durch Videos scrollt, die nach dem Angriff in den sozialen Medien geteilt wurden.
Über die Bekannten ihrer Jugendfreundin Elena haben Kostiuk und ihre Kinder Anastasiia und Kostiantyn sowie Kostiuks jüngere Schwester Alona Baliuk im April in einer Wohnung der Genossenschaft Wohnsinn ein vorübergehendes Zuhause gefunden, ein neues Dach über dem Kopf, in dem sie sich sicher und gut aufgehoben fühlen. Ähnlich dramatische Schicksale dürften viele der über 60 000 Menschen erlebt haben, die in den letzten Monaten vor dem Krieg in der Ukraine in die Schweiz flüchteten und hier registriert wurden. Mitte März hat der Bundesrat zum ersten Mal den Schutzstatus S aktiviert, der den ukrainischen Geflüchteten vorübergehend umfassende Rechte gibt, ohne dass sie ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen müssen.
Langfristig sind Wohnungen gefragt
Die Flüchtlinge werden einem Kanton zugewiesen, der entscheidet, wo sie untergebracht werden; die Betreuung erfolgt durch kantonale oder kommunale Stellen und Organisationen. Etwa die Hälfte der Geflüchteten ist in privaten Gastwohnungen untergekommen, die andere Hälfte in öffentlichen Strukturen. Die Unterbringung in Grossunterkünften und bei privaten Gastgebern sieht das Bundesamt für Wohnungswesen (BWO) aber nur mittelfristig als Lösung. Längerfristig sind eher Wohnungen gesucht.
Viele Wohnbaugenossenschaften in der Schweiz haben ihre Mitglieder darum kurz nach Kriegsausbruch in der Ukraine aufgerufen, Geflüchteten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Unter ihnen auch die Allgemeine Baugenossenschaft Luzern (ABL). «Für uns war sofort klar, dass wir helfen wollen», sagt Benno Zgraggen, Leiter Kommunikation. «Angesichts der akuten Notsituation haben wir acht Wohnungen aus dem internen Wohnungsmarkt genommen, um sie dem Kanton anzubieten.» Als Sofortmassnahme hat auch die Genossenschaft «Mehr als Wohnen» aus Zürich ihren Mitgliedern die freien Gästezimmer für die Beherbergung von Verwandten und Bekannten aus der Ukraine angeboten. «Vorübergehend wurden mehrere Familien in unserem Gästehaus untergebracht. Aber um längerfristig darin zu wohnen, reicht die Infrastruktur nicht aus», sagt der Kommunikationsverantwortliche Michael Loss. Darum habe man für Geflüchtete auch mehrere Wohnungen zur Verfügung gestellt.

Wie lange Oksana Kostiuk (Mitte) und ihre Familie in der Schweiz bleiben, ist ungewiss. Aber in der Horgner Wohnung dürfen sie so lange wohnen, wie sie wollen.

Koordiniert und improvisiert
Auch die Mieter-Baugenossenschaft Basel (MBG) hat schon Ende März bekannt gegeben, freiwerdende Wohnungen bis auf Weiteres an ukrainische Flüchtlinge abzugeben. Im zürcherischen Rümlang wiederum stellte die Gemeinnützige Baugenossenschaft Röntgenhof Zürich (GBRZ) vier leerstehende Wohnungen zur Verfügung – in einer Siedlung, für die ein Ersatzneubau geplant ist. In mehreren Siedlungskommissionen haben sich im März rasch Personen gefunden, die einen Sachspendenaufruf starteten und Material entgegennahmen. Im Eiltempo haben weitere Genossenschaftsmitglieder Möbel, Einrichtungsgegenstände und Haushaltsartikel gesammelt. An mehreren Tagen haben sie die Sachen dann in die Wohnungen getragen, Lampen montiert, Betten bezogen und Schränke mit Esswaren, Toiletten- und Reinigungsartikeln befüllt. «Die Helfer organisierten, koordinierten und improvisierten wie Weltmeister», heisst es in einem Newsletter dazu. Wenige Tage später seien die Wohnungen bezogen worden.
Rechtliche Hürden sind gross
Im grossen Stil ist in Luzern die Wohnbaugenossenschaft Libellenhof für den Kanton in die Bresche gesprungen. Seit Ende März stellt sie ihm an der Libellenstrasse sieben Mehrfamilienhäuser mit 75 Wohnungen zur Verfügung, so viele wie wohl keine andere Genossenschaft in der Schweiz. Etwa 300 Personen aus der Ukraine sind seither dort untergebracht. «Die Gelegenheit ergab sich, weil die bisherigen Mieterinnen und Mieter wegen eines anstehenden Bauprojekts gerade ihre Wohnungen verliessen», sagt Präsident Andy Bucher.
Dass Geflüchtete in Genossenschaftssiedlungen ziehen können, ist aber nicht überall problemlos möglich. Denn viele Wohnbaugenossenschaften dürfen ihre Wohnungen gemäss Statuten nur an Genossenschaftsmitglieder vermieten; Ausnahmefälle müssen entsprechend begründet werden. Und als Genossenschaftsmitglieder können Geflüchtete aufgrund des Bundesgesetzes über den Erwerb von Grundstücken durch Personen im Ausland («Lex Koller») ebenfalls nicht ohne Weiteres aufgenommen werden: Sie dürfen kein Anteilkapital zeichnen.
Zwar ergeben sich bei Wohnungen, die wegen eines Ersatzneubaus und entsprechenden Zwischennutzungen leer stehen, meist etwas andere rechtliche Umstände als bei regulären Mietobjekten. Aber auch bei letzteren müssen Genossenschaften bisweilen nach kreativen Lösungen suchen, um Geflüchtete aufnehmen zu können. «Wir haben sehr viele Anfragen erhalten», sagt Urs Hauser, Direktor Wohnbaugenossenschaften Schweiz. «Gerade bezüglich der Statuten und unterschiedlichen Vermietungsreglemente bestanden Unklarheiten. Der Rechtsdienst konnte unsere Mitglieder in den verschiedenen Fragestellungen unterstützen.»
Eine Lösung gefunden hat man bei der Wohngenossenschaft Geissenstein (EBG) in Luzern. «Die Vermietung an Nicht-Genossenschafter ist gemäss unserem Vermietungsreglement nicht möglich. Aber der Aufsichtsrat hat die Möglichkeit, Ausnahmen zu machen, zum Beispiel bei Sanierungen», sagt Geschäftsleiter Pascal Ziegler. Eine Kerngruppe von Bewohnern hat dort ein leerstehendes Reihenhaus und ein Einfamilienhaus, die vor einer Sanierung stehen, hergerichtet und mit Möbeln ausgestattet. «Die Kerngruppe hat auch freiwillige Handwerker organisiert, die uns kostenlos unterstützten, etwa bei der Installation von Leuchten oder bei der Montage von Möbeln.»
Auch die Verantwortlichen der Genossenschaft Wohnsinn in Horgen haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Oksana Kostiuk und ihre Schwester sowie die beiden Kinder aufnehmen zu können. «Wir haben entschieden, statutenwidrig zu handeln und die Frauen zwar in unsere Wohngemeinschaft aufzunehmen, aber nicht als Mitglieder in die Genossenschaft», sagt Manuela Widmer. Man sei eine kleine, selbstverwaltete Genossenschaft und könne solche Entscheide schnell und unbürokratisch fällen. Pläne zur Anpassung der Statuten gebe es keine. «Ich habe den Entscheid der Siedlung und des Vorstandes aber im Juni an der Generalversammlung absegnen lassen.»
Kleiner Verlust ist verkraftbar
Während die Mietverträge mit ukrainischen Geflüchteten in der Regel mit dem Kanton oder einer Gemeinde abgeschlossen werden, schloss man sie in Horgen direkt mit den Ukrainerinnen ab. Einen Anteilschein mussten die Frauen nicht kaufen, nicht einmal eine Mietkaution mussten sie leisten. Und für die Zukunft kann sich Widmer sogar vorstellen, den Frauen den Genossenschaftsbeitritt zu ermöglichen. Zwar sei es der grosse Wunsch der Familie, schnellstmöglich in die Ukraine zurückzukehren. «Wenn das nicht möglich ist, wollen wir abklären, ob wir sie als Genossenschafterinnen bei uns willkommen heis-sen können.» Als solche würden sie dann auch dieselben Rechte geniessen wie alle anderen Mitglieder.
Bezahlt werden die Wohnungen in der Regel von den Kantonen, die den Schutzbedürftigen eine durchschnittliche Pauschale von 1535 Franken für den Lebensunterhalt abgeben. Weil der Anteil für die Unterbringung etwa 216 Franken pro Person und Monat beträgt und damit kaum die Marktmiete erzielt werden kann, empfiehlt das BWO, auf dem Mietzins einen Rabatt zu gewähren.
Bei der Wohngenossenschaft Geissenstein in Luzern resultiert durch die Unterbringung ein kleiner Verlust: «Die Differenz kann über unseren Unterstützungsfonds ausgeglichen werden», sagt Ziegler. Allerdings sei der Betrag sehr tief, man könne das gut verkraften. In Horgen übernimmt die Gemeinde die gesamten Mietkosten. «Wir hätten diese aber auch aus unserem Solidaritätsfonds getragen, was in unserem Fall den Nutzungsregeln entsprochen hätte. Das ist nicht bei allen Wohnbaugenossenschaften der Fall», sagt Widmer.

Genossenschaftspräsidentin Manuela Widmer (Mitte) wohnt im selben Haus und ist täglich mit der Familie in Kontakt.
Oft fehlt eine Strategie
Der pragmatische Umgang der Schweiz mit den Geflüchteten aus der Ukraine ist löblich: Er zeigt, was möglich ist, wenn der politische Wille vorhanden ist. Aber er ist auch recht neu. In jüngerer Zeit war die Solidarität gegenüber Geflüchteten aus anderen Weltregionen nicht sehr gross. Vielmehr setzte die hiesige Politik auf Abschottung und Abwehr. So wurden zum Beispiel 2021 trotz deren Gefährdung im Herkunftsland kaum humanitäre Visa an Afghaninnen und Afghanen vergeben. Und auch gegenüber Geflüchteten aus anderen Ländern wie Sy-rien oder Eritrea hat das Land meistens eine harte Haltung gezeigt.
Eigentlich könnten Wohnbaugenossenschaften mit ihrem nicht gewinnorientierten Ansatz und ihrem in der Charta der gemeinnützigen Wohnbauträger festgehaltenen Ziel, Schwächere nicht auszugrenzen, sondern zu integrieren, bei der Bereitstellung von Wohnraum für Geflüchtete aus verschiedenen Ländern eine wichtige Rolle spielen. Denn diese haben es besonders schwer, in der Schweiz günstigen Wohnraum zu finden. In den vergangenen Jahren zeigten sich aber viele Genossenschaften eher zurückhaltend gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten. Zwar ist der Anteil von Flüchtlingen in ihren Siedlungen nicht bezifferbar. Oft fehlt aber auch eine klare Strategie, wie man mit solchen umgehen will, oder ein Bekenntnis, dass diese willkommen sind. Und so geben auch heute einige der angefragten Genossenschaften an, zum ersten Mal überhaupt geflüchtete Menschen aufzunehmen. So zum Beispiel die Wohngenossenschaft Geissenstein. Die Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten führt Pascal Ziegler vor allem auf die Tatsache zurück, dass der Krieg in Europa ausgetragen werde und somit «wenige Tausend Kilometer von uns entfernt».
Problem nicht allein lösen
Bei der Genossenschaft Wohnsinn in Horgen ist die soziale Haltung in den Statuten festgehalten, und das Engagement werde selbstverständlich gelebt. Sie selbst wohne im gleichen Haus wie die Geflüchteten und sei täglich in Kontakt mit der Familie, sagt Manuela Widmer. Während die Aktuarin der Genossenschaft und sie selbst das Mobiliar organisiert und die Wohnung hergerichtet hatten, regelte der Finanzfachmann die vertraglichen und finanziellen Fragen mit der Gemeinde. Mit ihr habe man denn auch eine Abmachung, dass man Leerstand immer dem Sozialamt melde. «Aber Flüchtlinge hat die Gemeinde uns bisher noch nie zugewiesen.»
«Ich finde Solidarität nach innen und aussen sehr wichtig», sagt auch Marlise Egger Andermatt, Präsidentin der ABL in Luzern. Die Gründe für die Zurückhaltung der Genossenschaften bezüglich der Aufnahme von Geflüchteten erklärt sie sich vor allem mit den internen Strukturen und Aufnahmebedingungen. Abgesehen davon, dass man die Wohnungen nur an Mitglieder vermieten dürfe, setze man bei der ABL auf ein Rangpunktesystem, in dem die Dauer der Mitgliedschaft die Chance auf eine Wohnung erhöhe. Eine Zuteilung ausserhalb dieses Systems, wie es jetzt mit den ukrainischen Flüchtlingen der Fall war, sei die Ausnahme und nur befristet möglich. «Ausserdem ist die Nachfrage nach Wohnungen bei uns sehr gross. Auf jede Wohnung gibt es viele Bewerbungen, und bei ausserordentlichen Zuteilungen müssten die GenossenschafterInnen jeweils zurückstehen.»
Egger Andermatt betont aber, dass bei der ABL viele Nationen vertreten sind. «Allein aus Eritrea haben wir über 150 Personen unter der Mieterschaft», sagt sie. Integration sei nicht nur für die Genossenschaft eine Herausforderung, sondern für die ganze Gesellschaft. «Wir können Hand bieten und einen Beitrag leisten, das Problem aber nicht allein lösen.»
Ihren Beitrag leisten auch die jüngeren, städtischen Genossenschaften. «Dass wir uns in Zeiten von Not mit anderen Menschen solidarisieren und langfristig Wohnraum zur Verfügung stellen, ist in unserer genossenschaftlichen DNA verankert», sagt Michael Loss von Mehr als Wohnen. «Unser Leitbild, die Statuten und unsere Reglemente bilden dies entsprechend ab.» Schon seit der Erstvermietung des Hunziker Areals 2014 wohnen in der Genossenschaft auch Geflüchtete. Sie arbeitet dafür mit der Asyl-Organisation Zürich (AOZ) und der Stiftung Domicil (siehe Box) zusammen. Zudem hat die Genossenschaft Notwohnungen, die die Stadt Zürich direkt vermittelt.
Für die unkomplizierte Aufnahme in die Wohngemeinschaft in Horgen ist Oksana Kostiuk sehr dankbar. Im April ist sie mit den Kindern und ihrer Schwester dort angekommen – wie lange die vier bleiben, ist ungewiss. Für Manuela Widmer ist klar, dass sie so lange in ihrer Wohnung leben dürfen, wie sie wollen. «Das haben wir so vereinbart.»
Noch weniger günstige Wohnungen
Die Stiftung Domicil vermittelt unter anderem im Auftrag der AOZ in der Stadt Zürich Wohnraum an Menschen, die auf dem Wohnungsmarkt benachteiligt sind. Mit der Wohnungs-vermittlung an ukrainische Geflüchtete wurde die Stiftung noch nicht beauftragt. Aber knapp die Hälfte der 200 Personen und Familien, für die sie derzeit eine Wohnung sucht, hat einen Fluchthintergrund: Viele stammen aus Eritrea, Afghanistan oder Syrien, und auf dem normalen Bewerbungsweg fänden sie gemäss Geschäftsleiterin Nadine Felix kaum etwas. «Für uns sind die Rahmen-bedingungen derzeit besonders schwierig. Auf dem Markt gibt es noch weniger preisgünstige Wohnungen
als sonst schon», sagt Felix. Etwa ein Drittel der 1150 Domicil-Mietverhältnisse laufen derzeit über Wohnbaugenossenschaften. «Weil sie auch grössere Familienwohnungen in einem erschwinglichen Preisrahmen anbieten, erleben wir Genossenschaften oft als Rettungsanker», so Felix. Dass sich Genossenschaften derzeit stark für ukrainische Geflüchtete engagieren, findet sie richtig und wichtig. Aber das Angebot an günstigem Wohnraum sei so stark begrenzt, dass dadurch andere leer ausgehen. «Dieser Wohnraum steht dann anderen Leuten, die schon länger suchen, nicht zur Verfügung.»