Zeitmaschine.TV bringt Generationen in den Dialog

Gemeinsam auf Zeitreise

Seit acht Jahren führt der Verein Zeitmaschine.TV mit Schulen Projekte durch, bei denen Jugendliche Zeitzeugen befragen und Kurzfilme drehen. Inzwischen sind auf der Vereinswebsite 500 Videos abrufbar – ein kleines Onlinegeschichtsarchiv. Ein Besuch bei zwei Klassen im schwyzerischen Unteriberg.

Von Thomas Bürgisser | Fotos: Renate Wernli | April 2017

Konzentriert sitzen die Jugendlichen im Schulzimmer, besprechen sich mit ihren Sitznachbarn, tippen auf ihren Tablets herum, mit denen sie auch sonst im Unterricht arbeiten. Es ist der erste Tag nach den Schulferien in Unteriberg, einem Dorf im Kanton Schwyz, von wo es ins Hoch-Ybrig-Gebiet hinaufgeht. Und die 31 Schülerinnen und Schüler der Oberstufenklassen 2A und 2B der Mittelpunktschule haben gleich eine Spezialstunde. Sie lernen, Tonspuren mit Fotos zu einem Kurzfilm verschmelzen zu lassen.
«Haltet euer Tablet beim Filmen immer gerade über die Fotos, sonst verzieht sich alles», erklärt Christian Lüthi vor der Klasse. Der Historiker und Medienwissenschaftler ist Initiator des Projektes Zeitmaschine.TV, in dessen Rahmen Jugendliche kurze Filme mit Zeitzeugen – meist pensionierten Protagonisten – realisieren. «Die Idee ist, den Generationendialog zu fördern und gleichzeitig Geschichte erlebbar zu machen», sagt Christian Lüthi. Auf der Leinwand zeigt er den 14- und 15-Jährigen ein Beispiel. «Wir mussten immer diese dicken Strümpfe tragen. Und die Haare durften in der Schule nicht offen getragen werden», erklingt es aus dem Lautsprecher. Dazu erscheint ein Bild einer Schulklasse aus den 1940er-Jahren, die Kamera schwenkt von den Füssen zu den Köpfen. «Seht ihr, wie ihr später den Fokus mit der Kamera verändern könnt?», fragt Christian Lüthi. Später, das ist beim zweiten Besuch bei den Zeitzeugen. Während eines ersten Besuches haben die Jugendlichen mit ihnen bereits Interviews geführt und daraus mehrere zwei- bis vierminütige Clips geschnitten. Diese gilt es nun zu bebildern. Christian Lüthi hat als Übungsmaterial fünf Fotoalben mit in den Unterricht gebracht. Und eine grosse Kiste mit alten Zeitschriften.

Zeitmaschine.TV-Initiant Christian Lüthi erklärt den Jugendlichen das Filmprogramm.

Geschichtsarchiv mit fünfhundert Clips
Nicht bei allen macht das Tonschneide- und Filmprogramm von Beginn an wie gewünscht mit. Bald schon aber beugen sich die Jugendlichen in Zweierteams über die Alben und Zeitschriften und üben. Die App «Z-moviemaker» wurde von Zeitmaschine.TV entwickelt und läuft auf allen Smartphones und Tablets. Seit 2008 führt der Verein das Projekt in der Deutschschweiz und punktuell auch in Berlin durch, finanziert von Stiftungen, kantonalen Stellen und Projektpartnern wie Schulen und Seniorenheimen. Manchmal als Projektwoche, manchmal über Monate verteilt. Fast immer treffen dabei Jugendliche auf Seniorinnen und Senioren, oft über neunzig Jahre alt.
Knapp fünfzig Umsetzungen hat es bisher gegeben, und auf der Website von Zeitmaschine.TV sind rund fünfhundert Clips abrufbar. Darin erzählen Zeitzeugen etwa vom Zweiten Weltkrieg, vom ersten selbst verdienten Geld, von der ersten Liebe, von Ausland­erfahrungen, Modetrends oder der Berufswahl. Das so entstehende Geschichtsarchiv sei ein Aspekt des Projektes, sagt Christian Lüthi. «Der wichtigere Teil aber ist der Entstehungsprozess. Oft ahnen Jugendliche gar nicht, was Ältere Spannendes zu erzählen haben. Zu gross sind meist die Berührungsängste.»

Organisation und Sozialkompetenz
In Unteriberg haben sich viele Schüler auf die Landwirtschaft fokussiert. Ein Thema, das den Jugendlichen hier sehr naheliege, sagt Lehrer Andreas Engeler. Zwei Jungen bestätigen: «Es ist schon spannend, wie viel anstrengender es früher war. Da hat man noch alles von Hand gemacht.» Andere haben mit ihrem Zeitzeugen über dessen Hobbys gesprochen. Töffli und Motocross. Zwei Mädchen kichern und berichten von den Röcken, die Mädchen früher tragen mussten. Lange Hosen seien verboten gewesen.
Andreas Engeler hatte durch den Schulleiter von Zeitmaschine.TV erfahren und war begeistert. «Ein pädagogisch sehr wertvolles Projekt», betont der Lehrer. Vor allem bezüglich Organisation und Sozialkompetenz. Denn die Schüler mussten selber Zeitzeugen suchen, ihnen das Projekt erklären, einen Termin abmachen, diesen wahrnehmen und rechtzeitig fertig werden. «Dabei werden Fähigkeiten geschult, die auch später im Berufsleben enorm wichtig sind.» Ein weiterer Aspekt sei die Schulung der Gesprächstechnik: Vor dem Interview werden offene Fragen trainiert und gelernt, wie man ein Gespräch am Laufen hält oder ausschweifende Monologe höflich unterbricht, um gezielt einen Aspekt zu vertiefen. Zu alledem stellt Zeitmaschine.TV Unterrichtsmaterial zur Verfügung und coacht die Jugendlichen bei Unterrichtsbesuchen.

Als Übungsmaterial zum Filmen dienen alte Fotoalben; später bei den Zeitzeugen werden dann deren Fotos verwendet.

Spannende Geschichten erfahren
Bei Fabienne und Kilian war das Interview kein Problem. Die beiden 15-Jährigen haben das Projekt, an dem sie nun schon mehrere Wochen dran sind, zusammen realisiert, und zwar mit Fabiennes Grossmutter Rosalina Reichmuth. Normalerweise würden als Zeitzeugen keine Familienmitglieder genommen, betont Christian Lüthi. In ländlich abgelegen Regionen wie Unteriberg sei es manchmal wegen des organisatorischen Aufwands der Jugendlichen aber nicht anders möglich. «Der Lerneffekt ist jedoch grös­ser, wenn sich die Protagonisten vorher nicht kennen. Wie etwa bei der Umsetzung mit Seniorenheimen. Die Begegnungen, die entstehen, wenn Pubertierende die Generation ü90 treffen, sind schon eindrücklich.»
Sie habe viel Neues von ihrer Grossmutter erfahren, erzählt Fabienne. Auch wenn diese im gleichen Haus wie sie wohnt. Zum Beispiel, dass Rosalina Reichmuth mit vierzehn fertig war mit der Schule, anschlies­send auf dem Hof der Eltern half und im Winter in Restaurants arbeitete. Oder dass sie das verdiente Geld lange zuhause abgeben musste. Erst mit zwanzig konnte sie ein wenig sparen. Für ein Tonbandgerät, um Handorgelmusik aufzunehmen. «Ich brauchte meine vorbereiteten Fragen fast nicht. Sie hat von sich aus so viel erzählt, dass schnell alles beantwortet war», erzählt Fabienne mit einem Schmunzeln. Aus dreissig Minuten Gespräch sind nun zwei Clips an je fast vier Minuten entstanden. «Jetzt fehlen nur noch die Bilder dazu.»

Gemeinsam die Clips schauen
Direkt nach dem Unterricht haben Fabienne und Kilian mit Rosalina Reichmuth abgemacht. Die 73-Jährige erwartet die beiden bereits. Sie habe sich gefreut auf den Besuch, wie schon auf das Interview, erzählt die pensionierte Bäuerin. «Normalerweise interessieren die Geschichten von früher doch niemanden. Aber wenn jemand fragt, erzähle ich schon», sagt sie lachend. Auf dem Küchentisch liegen bereits Fotos bereit. Rosalina Reichmuth als kleines Mädchen mit ihren Geschwistern vor einer Scheune. Eine alte Aufnahme von Spiringen im Kanton Uri, wo sie aufgewachsen ist. Und schnell kommt sie ins Erzählen. «Hier mussten wir nach der Schule jeweils zwei Stunden den Berg hinauf nach Hause laufen», erinnert sie sich.
Fabienne und Kilian legen inzwischen ein paar aus dem Unterricht mitgenommene alte Zeitschriften aus, als Hintergrund für ihren Film. Darauf drapieren sie die ersten Fotos. Kilian drückt auf dem Tablet auf Start, und die Stimme von Rosalina Reichmuth erklingt. Passend zum Erzählten filmen sie nun Foto für Foto, wechseln je nach Gesagtem den Fokus, wie sie es zuvor im Unterricht gelernt haben. «Es ist schon erstaunlich, wie die Jungen mit diesen kleinen Computern arbeiten», meint Rosalina Reichmuth. «Das Aufnahme- und Schnittprogramm war für uns aber auch die grösste Herausforderung», entgegnet ihre Enkelin. Nach zwanzig Minuten Arbeit speichern sie den ersten Clip ab. Diesen gibts später online zu sehen. Und auch bei einer gemeinsamen Filmvorführung an der Schule, zu dem im Sommer alle Beteiligten eingeladen sind. Rosalina Reichmuth freut sich schon und ist – ebenso wie Fabienne und Kilian – gespannt, was andere Zeitzeugen aus dem Dorf erzählt haben.

www.zeitmaschine.tv