Wohnen ohne Schranken
Mitten unter uns
Selbstbestimmt wohnen und ganz selbstverständlich Teil unserer Gesellschaft sein: Das möchten auch Menschen mit einer Beeinträchtigung. Bei einigen Wohnbaugenossenschaften können sie das schon lange im kleinen Rahmen. Neuere Projekte ermöglichen nun Inklusion im grossen Stil. Sie könnten Schule machen.
Text: Liza Papazoglou | Bilder: Wohnenextra | Dezember 2018
Ein Berg Kartoffeln türmt sich bereits in einer Schüssel, ein junger Mann kämpft mit einer Rande. Konzentriert schälen einige Jugendliche Gemüse, zwei schneiden Stäbchen für Backofenpommes. Dazwischen wird herumgewitzelt; einer zieht einem Mädchen die Sweatshirtkapuze über den Kopf, die Jungs klopfen Sprüche. Wenn es nach ihm gegangen wäre, gäbe es am liebsten «was Ungesundes», lacht einer, Spaghetti oder Burger oder so. Stattdessen wird nun Kräuterquark gemischt. Freundlich hält Elisabeth Stucky die Teenager zum Weitermachen an; bald werden die Gäste eintreffen, und weil kurzfristig zwei als Helfer eingeplante Familien aus der Genossenschaftssiedlung ausgefallen sind, braucht es einen kleinen Endspurt.
«Mit solchen Anlässen erreichen wir gleich mehrere Ziele: Unsere Jugendlichen üben praktische Fertigkeiten. Dabei übersetzen sie das Thema Food Waste aus dem Unterricht in die Praxis und bereiten aus nicht perfektem Gemüse, das sonst vernichtet worden wäre, ein Zmittag. Gleichzeitig ist das eine wunderbare Gelegenheit, uns mit den übrigen Bewohnerinnen und Bewohnern der Siedlung zu vernetzen», erklärt Elisabeth Stucky. Die Sozialpädagogin leitet die «Schulwohnung» der Rafaelschule, einer heilpädagogischen Tagesschule für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen.
Zusammenleben lernen in der Schulwohnung
Die Schulwohnung besteht seit sechs Jahren; seit eineinhalb Jahren ist sie in der Siedlung Eyhof der Baugenossenschaft Schönheim in Zürich Albisrieden untergebracht. Dafür konnte die Institution im Neubau eine Sechszimmerwohnung mieten. Jugendliche in der Berufswahlphase werden hier ganz praktisch aufs möglichst selbständige Wohnen vorbereitet und lernen alles, was dazu gehört, vom Einkaufen und Kochen übers Putzen und Wäschewaschen bis zur Freizeitgestaltung und Nachbarschaftspflege. Dabei wird grösster Wert gelegt auf Mitgestaltung und Selbständigkeit der Schülerinnen und Schüler. Wer will, kann auch einmal pro Woche hier übernachten.
An diesem Montagmittag im November hat die Schulwohnung zum Essen ins Siedlungslokal geladen. Die Stimmung ist locker, der Umgang ungezwungen, auch als nach und nach die schulinternen Gäste und einige Siedlungsbewohner eintreffen. Alle packen mit an; einige decken den Tisch, eine Mutter und ihr kleiner Sohn helfen einer Schülerin, Käsestücke auszupacken und zu schneiden. Derweil erzählt ein Vater, der hier wohnt und bereits den halben Vormittag tüchtig mitgeholfen hat, dass seine beiden Töchter unbedingt hier statt im Hort essen wollten. Gerade die Kinder begegnen den Schülerinnen und Schülern unkompliziert und reagieren mit unverhohlener Neugierde, aber unaufgeregt darauf, dass sich nicht alle gleich gut sprachlich ausdrücken können und teils auch etwas eigenwillig auftreten.
Selbstverständliches Miteinander
Elisabeth Stucky freut sich, ist die Schulwohnung in der Siedlung so gut verankert. «Die Bewohner sind sehr offen, und auch im Alltag gibt es immer wieder schöne Kontakte. Unsere Jugendlichen lernen so neben dem Haushalten, wie nachbarschaftliches Zusammenleben funktioniert.» Das bestätigen nach dem Essen auch Céline, Laura und Diana. Die 18- und 19-jährigen Frauen sind stolz, dürfen sie die Wohnung zeigen. Sie führen durch alle Zimmer und erklären, wer wo übernachtet; über jedem Bett sind liebevoll gestaltete Plakate mit Fotos von Freunden oder Idolen angebracht. An einer Stellwand hängt neben einer Nahrungsmittelpyramide der aktuelle Ämtliplan. Was ihnen an der Schulwohnung besonders gefällt? «Mit den Kolleginnen hier übernachten, und zusammen etwas machen», antwortet Laura sofort.
Unter den prosaischeren Tätigkeiten mag Diana besonders Zopfbacken und Kochen, Céline und Laura gefällt Bügeln. Daraus sind auch schon kleine Aufträge in der Nachbarschaft entstanden; eine Zeitlang etwa hat Céline für eine Frau geplättet. Und weil Laura gerne Fenster putzt, hat sie einer Familie angeboten, ihr dies ab und zu abzunehmen. Auch gab es schon Einladungen im Haus, gemeinsame Grillbuffets, Bastel- und Guetzle-Nachmittage, und ein Künstler organisierte zusammen mit der Schulwohnung einen offenen Malworkshop, der grossen Anklang fand. Genau um diese selbstverständliche Art der Teilhabe in der Gemeinschaft gehe es, sagt Elisabeth Stucky. «Solche Erfahrungen sind für unsere Jugendlichen enorm wichtig. Sie erleben etwa, dass man bei Nachbarn einfach klingeln kann, um etwas auszuleihen, und als Dank für ein ausgeliehenes Ei dann zum Beispiel ein Stück Kuchen bringt.» Das genossenschaftliche Umfeld wirke da sicherlich unterstützend, da man Gemeinschaftliches pflege.
Viele wirken im Kleinen
Ähnlich wie die Schönheim arbeiten auch andere Baugenossenschaften mit Institutionen zusammen, die betreute Wohngruppen für Menschen mit kognitiven, psychischen, körperlichen oder Sinnesbeeinträchtigungen anbieten. Beispiele dazu gibt es einige, Zahlen allerdings nicht, denn es existieren keine Statistiken, und in der Regel erfolgen solche Engagements ohne viel Aufhebens. Meistens aber handelt es sich bis jetzt um Einzelfälle, ausser vielleicht bei grösseren Genossenschaften. Die Allgemeine Baugenossenschaft Zürich (ABZ) etwa beherbergt seit über dreissig Jahren solche Wohngruppen; aktuell vermietet sie in verschiedenen Siedlungen insgesamt elf Wohnungen an fünf Institutionen.
Deren Bewohnerinnen und Bewohner werden wie alle anderen Mieter im üblichen Rahmen in die Siedlungsaktivitäten einbezogen. Bisher habe man nur positive Erfahrungen gemacht, weiss ABZ-Geschäftsführer Hans Rupp. «Die Wohngruppen sind sehr stabil und völlig integriert. Für uns sind das ganz normale Bewohnende.»
Uno-Konvention verleiht Schub
Dass der Einbezug aller eigentlich für alle Genossenschaften ein Thema sein müsste, hält die «Charta der gemeinnützigen Wohnbauträger» fest; sie verlangt, dass sie für eine gute Durchmischung sorgen, Wohnraum für alle Bevölkerungskreise anbieten und dabei unter anderem auch Behinderte besonders berücksichtigen sollen. Nachdruck verleihen könnte diesem Anspruch nun auch die Uno-Behindertenrechtskonvention. Die Schweiz hat sie 2014 ratifiziert und sich damit zu einer inklusiven Gesellschaft verpflichtet. Die Konvention verlangt, dass Menschen mit einer Behinderung gleichberechtigt und selbstbestimmt über ihr Leben verfügen können. Dazu zählt auch, selber zu entscheiden, wo und wie sie wohnen. Dies dürfte dazu führen, dass künftig noch viel mehr und differenziertere begleitete Wohnangebote entstehen, die in ganz normalen Wohnsiedlungen integriert werden. Im Gegenzug werden isolierte Heime längerfristig wohl zu Auslaufmodellen werden.
40 Wohn- und 30 Arbeitsplätze
Eine Idee, wohin die Reise gehen könnte, geben erste Beispiele. Etwa das 2014/15 bezogene Hunzikerareal der Baugenossenschaft «mehr als wohnen» in Zürich Leutschenbach mit seinem vielfältigen Wohn- und Gewerbeangebot. Bereits in einer frühen Planungsphase war die Stiftung Züriwerk auf das Projekt aufmerksam geworden; sie zählt zu den grössten Institutionen im Kanton, die Wohn- und Arbeitsplätze für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung anbieten.
Rasch war klar, dass man gut zusammenpasst – die Stiftung will ihren Klienten ein Wirken in normalen Lebensräumen ermöglichen, mehr als wohnen strebt eine möglichst breite soziale Durchmischung an. So vermietet nun die Genossenschaft ans Züriwerk mitten in der neuen Grosssiedlung eine Cluster-, zwei Gross- und zehn Kleinwohnungen sowie vier Atelierräume mit dreissig Arbeitsplätzen (siehe Wohnenextra 3/2015). In dieser Form und Grösse ist das Projekt eine Premiere.
Nicht alles klappt automatisch
Auf dem Hunzikerareal leben nun vierzig Menschen mit unterschiedlichem Begleitbedarf Tür an Tür mit den übrigen Mietern. In den Ateliers, die unter anderem Dienstleistungen wie Abfallrecycling in der Siedlung anbieten, arbeiten zudem teils auch Behinderte, die von extern kommen. Mit dem alltäglichen Miteinander habe man bisher sehr gute Erfahrungen gemacht und die Züriwerkbewohner fühlten sich wohl, betonen sowohl die Genossenschaft als auch die Stiftung.
Dennoch hat sich laut Wijnand Fransz vom Züriwerk gezeigt, dass Teilhabe am Siedlungsleben nicht für alle automatisch stattfindet. Die weitgehend selbständig lebenden Bewohner der Kleinwohnungen bewegen sich autonom, knüpfen selber Kontakte und besuchen schon mal einen Filmabend oder sonst eine Veranstaltung auf dem Areal. Hingegen ist es für die etwa zwanzig Personen mit hohem Unterstützungsbedarf der zwei Grosswohngruppen schwierig, sich einzubringen. Auch wenn viele von ihnen dies ausdrücklich wünschten, wie nicht nur eine Evaluation der Hochschule für Heilpädagogik vom letzten Jahr ergab, sondern auch das Betreuungsteam weiss.
Brücken bauen
Wijnand Fransz nennt als Beispiel einen Bewohner, der unbedingt auswärts essen gehen wollte, alleine dazu aber nicht in der Lage ist, weil er nicht sprechen kann und auf Betreuung angewiesen ist. «Als wir dann zusammen einen Restaurantbesuch machten, hatte er eine Riesenfreude. Toll war, zu erleben, wie junge Leute dort völlig unkompliziert auf uns zukamen.» Man spüre generell sehr viel Goodwill, es gebe aber auch grosse Unsicherheiten, viele trauten sich nicht, auf Schwerbehinderte zuzugehen.
Deshalb brauche es Vermittlung und eine Art Brückenschlag. Der Sozialpädagoge möchte nun eine Gruppe von Freiwilligen organisieren, mit deren Hilfe die Betroffenen mehr hinausgehen und am Gemeinschaftsleben teilnehmen können. Auch mehr als wohnen überlegt sich derzeit, wie man die Menschen noch besser aktivieren könnte, sagt die Partizipationsverantwortliche Anna Haller.
Bistro und Wohnen
Mitten ins Quartier, zu den Leuten: Diese Chance hat 2015 auch die Stiftung Altried sofort gepackt, als die Bau- und Wohngenossenschaft Kraftwerk1 fürs Areal Zwicky Süd – ein ehemaliges Fabrikareal in Dübendorf, das zu einem neuen Quartier umgestaltet wird – ein Projekt entwickelte. Bereits in ihrer ersten Siedlung Hardturm hatte die Genossenschaft zwei Wohngruppen der Stiftung untergebracht. Auch am neusten Standort lag eine Zusammenarbeit nahe. Doch dieses Mal in einer neuen Dimension: Kraftwerk1 vermietet hier nicht nur vier Fünfeinhalbzimmerwohnungen an betreute Wohngruppen, sondern hat auch den Betrieb eines Bistros samt kleinem Hotel in die Obhut der Stiftung gegeben.
Dort sorgt nun ein Team, darunter vierzehn Menschen mit leichter Beeinträchtigung, rundum für das Wohl der Gäste. «Unser Angebot kommt sehr gut an, und wir operieren kostendeckend», freut sich der Leiter Zentrale Dienste der Stiftung Altried, Christoph Hartmann. Genau so, im Quartier und bei den Leuten, funktioniere die Arbeitsintegration der Zukunft, ist er überzeugt. Eine tolle Sache sei das. Und auch Meta Weiss, Leiterin Integratives Wohnen, ist sehr zufrieden damit, wie sich das Zusammenleben auf dem Areal Zwicky Süd gestaltet. «Die Bewohner der Wohngruppen fühlen sich willkommen und zugehörig.» Hier könnten sie eigene Ideen einbringen und hätten zum Beispiel schon auf eigene Initiative eine Kunstausstellung fürs Sommerfest organisiert oder zum Spaghettiplausch geladen.
Bewegung auch bei Traditionellen
Auch bei Traditionsgenossenschaften tut sich etwas. So hat die Baugenossenschaft Talgut, die in Winterthur 280 Wohnungen besitzt, gut die Hälfte ihres kürzlich fertiggestellten Neubaus Sportparkweg an den Veso (ehemals Verein für Sozialpsychiatrie Region Winterthur) vermietet. Dieser unterstützt Menschen mit psychischen oder sozialen Schwierigkeiten, die ihren Alltag nicht alleine bewältigen können. Mit der zweistöckigen Grosswohnung mit 15 Zimmern und Rund-um-die-Uhr-Betreuung sowie einer Tagesstätte im Erdgeschoss verfügt der Veso nun erstmals über eine geeignete Einrichtung speziell für Menschen ab 55 – ein Angebot, das bislang fehlte und dringend nötig ist.
«Ein Riesenglücksfall», findet Erika Rechsteiner, die die Wohngruppe leitet. Zustande gekommen ist er, weil der Veso bereits seit Jahren Reinigungsarbeiten für die Genossenschaft ausgeführt hatte und man sich kannte. Da ein bereits aufgegleistes Projekt andernorts scheiterte, sprang kurzerhand die WBG Talgut ein – «auch wenn wir keinerlei Erfahrung mit solchen Projekten haben und viel Engagement nötig war, um alles zu koordinieren», erklärt Präsident Heinz Hunn. Ablehnung oder Ängste der anderen Mieter wegen ihren Nachbarn gebe es nicht – schliesslich gelten für die Bewohner der Wohngruppe strenge Vorgaben: Sie müssen an den wöchentlichen Gruppensitzungen teilnehmen, sich regelmässig psychiatrisch betreuen lassen, dürfen keine akuten Abhängigkeiten oder Psychosen haben und kein Risiko für eine Selbst- oder Fremdgefährdung aufweisen.
Halt im Leben
Einer dieser Bewohner ist der 56-jährige Fritz Müllestein, der zuvor seit 2015 in einer anderen Veso-Wohnung lebte. Ernst und nüchtern, aber freundlich erzählt er über sich. «Ich führte lange Zeit ein Doppelleben.» Fritz Müllestein machte das KV, spezialisierte sich auf Versicherungen und Buchhaltung. Früh geriet er in Kontakt mit Drogen. Richtig los davon kam er nicht mehr, arbeitete aber auch immer wieder. Es folgten Aufs und Abs, schliesslich Klinikaufhalte wegen paranoider Schizophrenie, Angstzuständen, Verfolgungswahn. Während einer Psychose verletzte er seinen Vater, landete in der Verwahrung. Düstere Jahre.
Jetzt gehe es ihm besser, stabiler. Um den Rahmen, den ihm die Wohngruppe gibt, ist Fritz Müllestein froh, auch wenn er die Tagesstätte im Haus nicht nutzt. Hergezogen sei er wegen dem modernen Haus, dem schönen Zimmer mit eigenem Bad. Und weil er Erika Rechsteiner kennt, die schon viel für ihn getan habe. Im Rahmen eines geschützten Büroarbeitsplatzes arbeitet er sechzig Prozent im Telefondienst der ABZ, daneben macht er für Kunden Buchhaltungen. «Nicht wegen dem Geld, sondern, um etwas Sinnvolles zu tun, das geschätzt wird.» Doch, es sei gut hier und gefalle ihm. Etwas fehlten ihm hier aber die jüngeren Leute. Ein feines Lächeln. Wie ein Jungsenior fühlt sich Fritz Müllestein offenbar noch nicht.
Fähigkeiten erhalten
Momentan leben sechs Personen in der Wohngruppe, die langsam aufgebaut wird. Alle, die hier ein neues Zuhause finden sollen, haben eine schwierige Geschichte. «Für ältere Menschen mit psychischen Problemen ist es vor allem wichtig, dass sie eine Tagesstruktur haben und ihre Ressourcen möglichst erhalten können», sagt Erika Rechsteiner. Wer möchte, kann deshalb die Tagesstätte im Erdgeschoss besuchen, die auch externen Personen offensteht, und dort ohne Leistungsdruck an individuell abgestimmten Beschäftigungsmöglichkeiten teilnehmen. Gespräche, Spiele und handwerklich-gestalterische Tätigkeiten sollen das Wohlbefinden und die Fähigkeit zur Alltagsbewältigung verbessern.
In der Wohngruppe können die Bewohnenden beim Putzen, Waschen und Kochen mithelfen. Geachtet wird auf gemeinsame Mahlzeiten, ansonsten entscheiden sie selber, wie stark sie sich einbringen. Da die meisten Rückzugstendenzen hätten, sei das Bedürfnis nach nachbarschaftlichem Zusammenleben eher gering, aber natürlich könnten Kontakte entstehen, auch dank des gemeinsamen Aussenraums. Das wird sich alles noch entwickeln müssen, zum ersten Mal ist die Veso mitten in einer genossenschaftlichen Siedlung einquartiert. Erika Rechsteiner ist aber zuversichtlich, dass es gut wird hier. Geht man nach den anderen Beispielen, dürfte sie Recht behalten.