Knapper Erstwohnraum in Bündner Tourismusgemeinden
«Ein Ausverkauf der Heimat»
Erstwohnungen werden in Graubünden oft in Ferienwohnungen umgewandelt, weil das lukrativer ist. Einheimische verlieren ihr Zuhause und finden kaum noch bezahlbaren Wohnraum. Immer mehr Gemeinden prüfen nun Möglichkeiten, um bezahlbare Erstwohnungen zu fördern, und setzen auf den gemeinnützigen Wohnungsbau.
Von Lea Gerber | Bilder: Dani Ammann, Engadiner Post, Wohnen, zVg | 2024/02
In Celerina bei St. Moritz im Oberengadin mussten im vergangenen Jahr 22 teils langjährige Mieterinnen und Mieter ihre Wohnungen verlassen – und in den meisten Fällen auch ihre Gemeinde. Ihre Wohnüberbauung wird derzeit totalsaniert und zu vierzehn Ferienwohnungen der Extraklasse umgebaut. Wohl keine andere Umnutzung hat in den letzten Monaten ähnlich grosse Schlagzeilen gemacht wie die «Chesa Faratscha» in Celerina. Sie steht symbolisch für die akute Wohnungsnot, mit der Einheimische in Tourismusregionen schweizweit und ganz besonders in Graubünden zu kämpfen haben. Auch örtlichen Betrieben gelingt es kaum noch, Wohnraum für ihre Angestellten zu finden.
Seit Inkrafttreten des Zweitwohnungsgesetzes gilt: In Gemeinden mit einem Anteil an Ferienwohnungen von zwanzig Prozent oder mehr dürfen keine neuen Zweitwohnungen mehr gebaut werden. Bloss: Seither hat der Druck auf den Altbestand stark zugenommen. Denn die Umnutzung von Erstwohnungen zu Zweitwohnungen wird durch das Gesetz nicht beschränkt.
Gewinnerinnen und Verlierer
95 Prozent des Wohnungsbestands in Graubünden sind sogenannte «altrechtliche» Wohnungen, die bei Annahme der Zweitwohnungsinitiative bereits bestanden und deshalb potenziell umgenutzt werden können – und es auch werden. «Die Nachfrage nach einem Stück Engadin ist sehr gross und die finanziellen Mittel der an einem Kauf Interessierten sind enorm. Davon profitieren die Einheimischen beim Immobilienverkauf an den Meistbietenden, und die Gemeinden erzielen durch Steuern hohe Einnahmen», sagt die Bündner Architektin Mara Horváth. Sie hat in ihrer Masterthesis das Tauschmodell «Quid pro quo» zur Problematik der Wohnungsknappheit im Oberengadin entwickelt (siehe Box). «Verlierer sind die einheimischen Mietenden, weil das Angebot an erschwinglichen Mietwohnungen mager ist und weiter abnimmt.» Momentan liege der regionale Mietwohnungsbestand bei 24 Prozent, die Leerwohnungsziffer bei 0,47 Prozent, Tendenz sinkend. «Das ist ein Ausverkauf der Heimat», bedauert Horváth. Die Konsequenz: Die einheimische Bevölkerung wird verdrängt.
Auch Orlando Menghini, Raumplaner und Verwaltungsratspräsident eines renommierten Raumplanungsbüros in Chur, teilt diese Einschätzung. «Preisgünstiger Wohnraum wird reihenweise zu Zweitwohnraum umgenutzt», sagte er an einer Tagung, die das Bundesamt für Wohnungswesen und das Bundesamt für Raumentwicklung Ende Januar zum Thema Erstwohnraum in Tourismusgemeinden durchgeführt hatten. Und dies, obwohl die Hälfte aller Gemeinden in Graubünden einen Zweitwohnungsanteil zwischen fünfzig und achtzig Prozent hätten. Auch hier ist die Tendenz steigend. Menghini warnte vor gesellschaftlichen Spannungen, die zwischen Einheimischen und Besitzerinnen von Zweitwohnungen auftreten könnten.
Unerschwingliche Mietpreise
Können sich Einheimische die wenigen mietbaren Wohnungen überhaupt noch leisten? Um diese Frage zu klären, liess die Gemeinde Pontresina im vergangenen Jahr eine Wohnraumanalyse aufgrund der Nachfrage, des Angebots, des Einkommens und der Preise auf dem Wohnungsmarkt erstellen. Das Fazit: Die mietbaren Wohnungen liegen preislich über den finanziellen Mitteln eines grossen Teils der Bevölkerung. Gemäss der Studie müssen fast drei Viertel der Steuerpflichtigen für eine Vierzimmerwohnung mehr ausgeben, als sie sich eigentlich leisten könnten. Deshalb vermuten die Studienverfasser, dass insbesondere Familien aus Pontresina wegziehen müssen oder wegen zu hoher Preise nicht zuziehen. Sehr ähnliche Resultate lieferte eine fast identische Wohnraumanalyse für St. Moritz.
Die Pontresiner Studie zeigt auch auf, dass Wohnungen gemeinnütziger Bauträger deutlich günstiger sind. Damit die Gemeinde mehr solcher Wohnungen schaffen kann, hat sich die Gemeindeversammlung von Pontresina letzten Frühling deutlich für die Gründung der Stiftung «Fundaziun da Puntraschigna» ausgesprochen. Der Stiftungszweck ist, wirtschaftlich tragbare Wohnungen für Einheimische zu erhalten und zu schaffen. Die Gemeinde hat der Stiftung ein Anfangsvermögen von einer halben Million Franken zugesprochen, weitere Beiträge sind vorgesehen. Aktuell prüft sie die Einführung einer Zweitwohnungssteuer beziehungsweise einer Lenkungsabgabe. Diese reduziert sich, wenn die Wohnung touristisch vermietet wird, oder entfällt, wenn sie als Erstwohnung genutzt wird. Ein Teil der Einnahmen aus der Lenkungsabgabe könnte an die Stiftung gehen. Ob eine Lenkungsabgabe eingeführt wird, entscheidet sich frühestens im Sommer 2024 an der Gemeindeversammlung.
Pflicht für Erstwohnungsanteil
Auch die Gemeinde Flims hat gemerkt, dass Handlungsbedarf besteht: Mindestens hundert Erstwohnungen wurden in Flims allein im Zeitraum von 2017 bis 2021 in Zweitwohnungen umgenutzt. Das hat eine Studie der Fachhochschule Graubünden ergeben. Gemäss Gemeindepräsident Martin Hug liegt die Leerwohnungsziffer bei 0,15 Prozent. «Was das Dorfzentrum angeht, haben wir das Tafelsilber schon längst verscherbelt», sagte er anlässlich der Tagung im Januar. Glücklicherweise hat die Gemeinde 2012 eine Parzelle gekauft, die sie jetzt im Baurecht abgibt. Als Investorin konnte sie die Bündner Kantonalbank gewinnen. «Früher hätten wir hier Wohneigentum für Einheimische erstellt. Das ist heute anders. Jetzt will die Gemeinde mitreden, damit die richtigen Leute dort wohnen – ähnlich wie im gemeinnützigen Wohnungsbau», sagt Hug.
Wohnraumstrategie setzt hohe Ziele
Zudem haben die Flimserinnen und Flimser im November letzten Jahres an der Urne einem kommunalen Zweitwohnungsgesetz deutlich zugestimmt. Damit wird eine sogenannte Erstwohnungsanteilspflicht eingeführt. Das heisst: Werden altrechtliche Wohnungen abgebrochen und wieder aufgebaut, müssen fünfzig Prozent der Hauptnutzfläche als Erstwohnung zur Verfügung gestellt werden. Dasselbe gilt bei neubauähnlichen oder wesentlichen Umbauten. Wer der Erstwohnungspflicht nicht nachkommen will, kann sich durch eine Ersatzabgabe freikaufen. Diese Mittel will die Gemeinde für die aktive Förderung von Erstwohnungen einsetzen.
Auch Davos setzte sich eingehend mit dem Wohnungsangebot auseinander. Die Gemeinde erarbeitete im vergangenen Sommer gemeinsam mit einem Planungsbüro eine Wohnraumstrategie. Sie setzt darin unter anderem auf gemeinnützige Bauträgerinnen und möchte Arealentwicklungen vorantreiben. Bei der Arealentwicklung Valbella sollen etwa 120 bis 150 Erstwohnungen entstehen, die Hälfte davon in Miete. Davon soll wiederum die Hälfte zur Kostenmiete vermietet werden. Bei der Arealentwicklung Färbi, wo rund sechzig Erstwohnungen entstehen könnten, sollen die gesamten Mehrflächen – also aller Wohnraum, der zusätzlich entstehen kann – als Mietwohnungen auf den Markt kommen. Ein Drittel der Mehrfläche muss zur Kostenmiete vermietet werden.
Quantitativ hat sich Davos in der Wohnraumstrategie zum Ziel gesetzt, bis in zehn Jahren 950 neue Wohnungen zu bauen. In den letzten fünf Jahren wurden pro Jahr durchschnittlich 55 Erstwohnungen zu Zweitwohnungen umgenutzt. Wenn sich diese Tendenz nicht noch verstärkt, würden in den nächsten zehn Jahren also etwa 550 Erstwohnungen vom Markt verschwinden. Um diesen Trend abzuschwächen, plant die Gemeinde eine Teilrevision des kommunalen Zweitwohnungsgesetzes. Ähnlich wie in Flims soll eine Regelung gefunden werden, die sicherstellt, dass bei Abbruch und Wiederaufbau sowie bei der Auskernung von Miethäusern ein bestimmtes Mass an Erstwohnraum erhalten bleibt. Auch hier soll die Möglichkeit einer Ersatzabgabe den Eigentümerinnen und Eigentümern einen gewissen Spielraum lassen und zugleich der Gemeinde helfen, die Wohnraumstrategie zu finanzieren. In Davos sind die Vorbereitungen jedoch noch nicht so weit fortgeschritten, als dass die Teilrevision schon der Bevölkerung vorgelegt werden könnte.
Notbremse gezogen
Als eine der ersten Gemeinden in Graubünden ist die Gemeinde Sils die Wohnungsnot und das drohende Aussterben der Dorfkerne von Sils Maria und Sils Baselgia angegangen. Der Gemeindevorstand hat im Januar 2022 die Notbremse gezogen: Er erliess eine sogenannte Planungszone über alle Grundstücke des Gemeindegebiets. Solange diese besteht, darf nichts unternommen werden, was die geplanten Massnahmen erschwert. Bauvorhaben dürfen nicht bewilligt werden, wenn sie den geplanten Vorschriften widersprechen könnten. Mit dem Erlass einer Planungszone hat die Gemeinde bis zu fünf Jahre Zeit, im Dialog mit der Bevölkerung nach Lösungen zu suchen.
Das von einer Arbeitsgruppe erarbeitete umfangreiche Massnahmenpaket sah unter anderem bei Abbruch und Wiederaufbau einen Mindestanteil von fünfzig Prozent der Wohnhauptnutzfläche als Erstwohnungen vor (analog der Regelung in Flims). Weitere Massnahmen sollten bei Handänderungen ansetzen. Doch an der Gemeindeversammlung vom Sommer 2022 stiess der Gemeinderat mit den Vorschlägen auf harsche Kritik vornehmlich von alteingesessenen Einheimischen. Zu massiv sei der Eingriff in das Eigentumsrecht, monierten sie. Seither konzen-triert sich die Gemeinde darauf, das Wohnraumproblem mit Anreizen zu lösen – zum Beispiel mit dem Bau von neuen Genossenschaftswohnungen.
Genossenschaft gegründet
An der Gemeindeversammlung im Dezember 2022 sagten die Stimmberechtigten deutlich Ja zur Abgabe von zwei gemeindeeigenen Parzellen im Quartier Seglias an eine Genossenschaft. Dazu wurde im Februar letzten Jahres eigens eine neue Genossenschaft gegründet. Die Gründungsmitglieder der Cooperativa Lagrev setzen sich aus Ein- und Zweitheimischen sowie Unternehmern und Gewerbetreibenden mit Silser Wurzeln zusammen. Läuft alles nach Plan, will die Genossenschaft im Frühling mit dem Bau der Wohnungen beginnen.
Auch Genossenschaften von ausserhalb der Region sind gewillt, zur Lösung der angespannten Wohnsituation beizutragen. So etwa die Zürcher Genossenschaft Gewobag. Sie kaufte in Zernez ein Neunzimmerhaus, baute es sanft um und erstellte darin drei Mietwohnungen. Der bisherige Besitzer der «Chasa Chapütschin» hatte ganz bewusst eine Käuferin gesucht, die dort preiswerten Wohnraum für Einheimische entstehen lässt. Seit letztem Frühling vermietet die Genossenschaft darum nicht nur Wohnungen in der Stadt und Agglomeration Zürich, sondern auch im Unterengadin.
Der Regionalverband Ostschweiz berät Gemeinden, Korporationen, Interessengruppen und Genossenschaften in Fragen rund um die Gründung, Finanzierung und Organisation von Genossenschaften. Als Reaktion auf die angespannte Lage im Kanton Graubünden hat er sein Beratungsteam verstärkt.
Das Modell «Quid pro quo» (Dies für das)
Das von der Bündner Architektin Mara Horváth entwickelte Tauschmodell funktioniert so: Sanierungsbedürftige Mehrfamilienhäuser, oft im Eigentum von Stockwerkeigentümer-gemeinschaften, werden von einer Stiftung für preisgünstiges Wohnen energetisch ertüchtigt. Im Gegenzug darf die Stiftung im Baurecht auf der bestehenden Parzelle zusätzliche Erstwohnungen zur Kostenmiete erstellen, wobei die Gemeinde eine bedingte Aufzonung erlässt, falls die Ausnützung ausgeschöpft ist. Auch für Genossenschaften könnte dieses Modell interessant sein.
Kanton Graubünden bewegt sich
Nach längerer Zurückhaltung will die Kantonsregierung die Wohnungsnot in Graubünden auch auf kantonaler Ebene angehen. Die Regierung erklärte sich im Mai 2023 bereit, zwei Vorstösse aus dem Parlament entgegenzunehmen. Die SP-Fraktion fordert in ihrem Auftrag eine kantonale gesetzliche Grundlage zur Förderung von bezahlbarem Erstwohnraum (zur Miete). Der zweite Auftrag aus den Reihen der Mitte-Partei verlangt eine verstärkte Förderung von Wohneigentum. Die Kantonsregierung stellt nun in Aussicht, mit einer Revision des Wohnungsbaugesetzes mehr Mittel für die Förderung von Wohneigentum für finanzschwache Haushalte im Berggebiet bereitzustellen. Für mehr günstigen Mietwohnraum will die Exekutive eine indirekte Förderung des gemeinnützigen Wohnungsbaus prüfen. Diese Förderung würde als Ergänzung zum Fonds de Roulement des Bundes installiert.