Der Rückbau von Wohnsiedlungen ist ein komplexer Prozess

Zerlegen, sortieren, rezyklieren

Der «Abbruch» ist von gestern. Moderne Rückbauverfahren setzen auf Triage und geschlossene Materialkreisläufe. Mit Recycling-Baustoffen und Bauteilbörsen können Genossenschaften den ökologischen Fussabdruck ihrer Neubauten deutlich reduzieren. Das Problem: Wer ökologisch handeln will, bezahlt dies heute noch teuer.

Von Michael Staub | Bilder: Saskia Rosset, Lötscher AG, Eberhard AG | September 2020

Beim Rückbau eines alten Fabrikgebäudes in der Viscosistadt in Emmen scheint der Bauarbeiter ein ebenso schwungvolles wie präzises Ballettstück aufzuführen. Immer wieder pickt er mit dem Arm seines Lastwagenkrans grosse und kleine Stahlträger aus dem grossen Schutthaufen und deponiert sie in einer Mulde. Währenddessen steht der grosse Abbruchbagger im Hintergrund bereit, um ein weiteres Geschoss abzutragen. Maschineller Rückbau, schweres Gerät und präzise Sortierung des Materials – die Situation ist typisch und zeigt, dass der immer noch gern benutzte Begriff «Abbruch» schon lange nicht mehr zutrifft. Der moderne Rückbau ist ein anspruchsvoller Prozess.

Differenzierte Verwertung
Dies gilt auch für den Umgang mit dem anfallenden Material. Dieses wird schon längst nicht mehr tel quel deponiert, sondern in zahlreiche Kategorien unterteilt. «Wir unterscheiden unter anderem Betonabbruch, Mischabbruch, Dachziegel, Altholz, Altmetall, brennbare Abfälle sowie Inert- und Reaktorstoffe für die Deponie. Diese Triage machen wir auf der Baustelle und transportieren das Material dann in die jeweilige Aufbereitungsanlage oder Deponie», erklärt Stefan Wüest. Er ist Chef-Bauführer der Lötscher Tiefbau AG und war unter anderem für den Rückbau der alten ABL-Siedlung Himmelrich verantwortlich. Häufig sind Rückbauunternehmen auch Baustoffhersteller. «Wenn der Platz reicht, stellen wir auf der Baustelle gleich Recyclingbeton- oder Mischabbruchgranulat her. Idealerweise können diese Produkte dann wieder vor Ort verbaut werden», sagt Stefan Wüest.
Viel triagiert wird auch bei der Eberhard Bau AG, die unter anderem die Siedlung Brüderhofweg der Baugenossenschaft Frohheim in Zürich rückgebaut hat. «Damit wir möglichst viel Rückbaumaterial in den Materialkreislauf zurückführen können, legen wir viel Gewicht auf die richtige Sortierung beim Abbruch», sagt Patrick Eberhard, Leiter Baustoffe. Die Firma betreibt separate Aufbereitungswerke für Beton- und Mischabbruch.

Das Sortieren der vielen Baustoffe und -teile, die beim Abbruch anfallen, ist aufwendig. Bild: Triage beim Rückbau der Siedlung Himmelrich 3 der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL). Wohnen hat die Neubauten in der Ausgabe 5/2020 ausführlich vorgestellt.

Zerkleinern und wiederverwenden
Das rückgebaute mineralische Material wird in speziellen Anlagen in kleine Stücke gebrochen, von Fremdstoffen befreit, gesiebt und nach Korngrösse sortiert. Wenn für dieses Granulat nur reiner Betonabbruch verwendet wird, spricht man von Betongranulat. Wenn hingegen Mischabbruch (Beton, Backstein, Ziegel usw.) verwendet wird, handelt es sich um ein Mischgranulat. Beide Granulate eignen sich, um einen wichtigen Bestandteil frischen Betons, den zunehmend knappen Kies, weitgehend zu ersetzen. Durch die Zugabe von Wasser und Zement entsteht aus dem Granulat nun ein Recyclingbeton (RC-Beton).
Bei einer hochwertigen Aufbereitung besitzt der RC-Beton eine gleichwertige Festigkeit wie neuer Beton. Dies hat sich jedoch noch nicht überall herumgesprochen, und deshalb ist der Marktanteil des RC-Betons noch tief. Er beträgt gerade einmal 15 Prozent der 40 Millionen Tonnen Baustoffe, die jedes Jahr in der Schweiz verbaut werden. Letztes Jahr zeigten Versuche der Hochschule Luzern (HSLU) jedoch, dass der Recyclingbeton widerstandsfähiger ist als gedacht. Nun soll das Merkblatt SIA 2030, das die Verwendung von RC-Beton regelt, den neuen Erkenntnissen angepasst werden. Für Bauträger ist der Einsatz unterm Strich kostenneutral, denn das Aufbereiten des rückgebauten Materials kostet gemäss HSLU gleich viel wie der Abbau von frischen Rohstoffen. Den Ausschlag für den Einsatz von RC-Beton gibt letztlich die Bauherrschaft: Wenn eine Genossenschaft darauf besteht, werden sich Architekt, Baumeister und Rückbauunternehmen danach richten.

Aufwendige Sortierung
Beton- beziehungsweise Mischabbruch lässt sich also gut wiederverwenden. Doch was passiert mit der übrigen Bausubstanz? Die nicht recycelbaren Materialien, zum Beispiel Gipswände, Isolierplatten oder die geschäumten Ytong-Steine sortieren die Eberhard-Mitarbeitenden von Hand, bevor das Material in einer Inertstoffdeponie entsorgt wird. Speziell ausgesondert werden auch nicht mineralische Bauabfälle wie Teppiche, abgehängte Decken, Einbauschränke, Küchen- und Badezimmerkomponenten oder Leuchtmittel. «All dieses Material wird entfernt und danach fachgerecht entsorgt», sagt Peter Eberhard.
Je feiner die Sortierung ist, desto mehr Material kann rezykliert beziehungsweise gesondert entsorgt werden. Etwas mehr Ökologie läge deshalb nach Meinung von Stefan Wüest von der Lötscher Tiefbau AG auch bei der Triage drin: «Das brennbare Material könnte man noch feiner sortieren, da es oft auch Kunststoff, Papier, Karton und Holz enthält. Der Aufwand für eine solche Trennung auf der Baustelle wäre aber enorm, da dies reine Handarbeit ist.»

Der Misch- und Betonabbruch vom Brüderhofweg wurde im Baustoff-Recycling-Zentrum «Ebirec» in Rümlang (ZH) aufbereitet.

Zweites Leben für Bauteile
Eine weitere Option ist die Demontage noch brauchbarer und intakter Bauteile wie Türen, Fenster oder Sanitärkeramik, um sie anderswo wieder einzusetzen. Interessante Projekte wie das Atelierhaus «Kopfbau 118» in Winterthur zeigen das grosse Potenzial der Wiederverwendung. Doch das Demontieren bestehender Bauteile verlangt nach Handarbeit und erzeugt damit zusätzliche Kosten. «In den meisten Fällen ist der finanzielle und zeitliche Aufwand viel zu hoch, deshalb werden die Bauteile entsorgt. Die Ausnahme sind einzelne hochwertige Bauteile, etwa alte Holzbalken oder von Hand behauene Natursteine. Solche Teile zu demontieren und einem neuen Gebrauch zuzuführen, lohnt sich», sagt Stefan Wüest. Patrick Eberhard ergänzt: «Weil die Bauteile einzeln herausgenommen werden müssen, ist ‹Re-use› sehr teuer. Wenn der Bauherr gewillt ist, ist dies jedoch eine sinnvolle Variante. Wir sehen durchaus Potenzial in der Wiederverwendung von Bauteilen.»
Der neue Materialkataster «Madaster» könnte hier Unterstützung bieten. Das vor kurzem lancierte Angebot ist gleichsam ein freiwilliger Katalog für alle Materialien und Bauteile in einem Gebäude. Das Problem: Auch hier muss die Eigentümerschaft des Gebäudes explizit mitmachen und die entstehenden Kosten tragen wollen. Solange der Deponieraum beziehungsweise die Kehrichtverbrennungsanlage günstiger ist als die Arbeitsstunden der Demontagearbeiter, ist der finanzielle Anreiz leider nur schwach.

Leadership gefragt
Der Ersatzneubau geniesst bei vielen Baugenossenschaften einen hohen Stellenwert. Während der Fokus auf die Betriebsenergie (Minergie, Wärmerückgewinnung, Abwärmenutzung usw.) oft vorbildlich ist, gibt es beim Rückbau sicherlich noch Luft nach oben. Mit einem konsequenten Einsatz von Recyclingbaustoffen, einer feineren Triage des Rückbaumaterials oder der vermehrten Nutzung von Bauteilbörsen kann die graue Energie bei Ersatzneubauprojekten wesentlich gesenkt werden. Mit ihrem Augenmerk für nachhaltige, für Mensch und Umwelt tragbare Lösungen sind Genossenschaften prädestiniert, hier die Führung zu übernehmen.

So funktioniert der moderne Rückbau

Aus den Augen, aus dem Sinn. Dieses Prinzip galt für den klassischen Abbruch von Gebäuden. Die Gebäude wurden mit schwerem Gerät demoliert und der Schutt anschliessend auf eine Deponie gebracht. Doch diese Zeiten sind, zumindest in der Schweiz, schon lange vorbei. Denn der moderne Rückbau will nicht einfach Gebäude entfernen, sondern auch die Materialflüsse optimieren. Was von der Bausubstanz noch brauchbar ist, etwa Beton, Alteisen, Holz oder Bauteile, wird wiederverwertet. Der Rückbau beginnt mit den problematischen Materialien. Schadstoffe und belastete Bauteile beziehungsweise Altlasten werden fachgerecht und sicher

entsorgt oder deponiert. Spezielle Abläufe gelten beispielsweise für die Entfernung von asbesthaltigem Material. Anschliessend werden die Gebäude entkernt, Ziegeldächer abgedeckt und die Fenster entfernt. Ebenso räumen die Rückbaufirmen die Gebäude. Mit all diesen Vorarbeiten können mineralische und nicht mineralische Baustoffe getrennt werden. Anschliessend folgt der maschinelle Rückbau mit Baggern, zuweilen auch Abbruchrobotern. Das anfallende Material wird sortiert und in die Aufbereitungsanlage, Wertstoffsammelstelle oder Deponie transportiert.