
Die Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Zürich (wsgz) hat ein erfolgreiches Modell fürs Alterswohnen entwickelt
Selbständig leben – auch im Alter
«Wohnen im Alter» geniesst bei der Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Zürich (wsgz) schon seit den 1960ern hohe Priorität. In den letzten Jahren hat sie in mehreren Siedlungen das Konzept «Wohnenplus» etabliert, das darauf abzielt, dass ältere Menschen möglichst lange selbständig leben können. Dabei setzt sie auf die Zusammenarbeit mit einem breiten Netzwerk von Partnern.
Von Jürg Zulliger | Bilder: Seraina Boner | August 2019
Die Wohn- und Siedlungsgenossenschaft Zürich (wsgz) begeht dieses Jahr ihr 75-Jahr-Jubiläum (siehe Separatbox). Die Genossenschaft mit über 1100 Wohnungen setzte sich schon früh mit dem Thema «Wohnen im Alter» auseinander. «Das lag ohne Zweifel daran, dass die Vorstandsmitglieder persönlich einen Bezug dazu hatten oder in ihrem eigenen Umfeld Erfahrungen sammelten», erzählt Präsident Felix Hess. Sämtliche Siedlungen aus den verschiedenen Baujahren standen grundsätzlich allen Alters- und Bevölkerungsgruppen offen. Im Lauf der Zeit kristallisierte sich immer mehr die Erkenntnis heraus, dass die Mieterinnen und Mieter auch im zweiten Lebensabschnitt so lange wie möglich in ihren eigenen vier Wänden bleiben wollen.
Eigenes Konzept
Mit Wohnenplus hat die wsgz ihr eigenes Konzept entwickelt, das diesem Wunsch Rechnung trägt. Erstmals umgesetzt hat sie es 2011 mit der Überbauung Breitipark in Bassersdorf. Sie umfasst 56 Alters- und Familienwohnungen, Gemeinschaftsraum mit integrierter Küche sowie ein Spitex-Büro direkt in der Siedlung. Ein weiteres Vorhaben mit der gleichen Philosophie folgte 2015 in Oberglatt. Die Siedlung Gartenstrasse (42 Alterswohnungen) beherbergt eine eigene Pflegeabteilung mit 16 Betten, die durch das Gesundheitszentrum Dielsdorf betrieben wird. Weitere Einrichtungen wie Spitex-Stützpunkt, Gemeinschaftsraum für die Mieterschaft und eine Gemeindebibliothek runden das Angebot ab. Jüngster Zuwachs ist die Wohnenplus-Siedlung Bergli in Bülach (siehe unten). Ein weiterer Neubau ist in Mettmenstetten projektiert.
Allen gemeinsam ist ein hoher Anteil an Wohnungen, die baulich und technisch speziell auf die Bedürfnisse von älteren Menschen zugeschnitten sind. «Nach unserer Erfahrung ist es aber essenziell, dass die Wohnungen und Gebäude äusserlich nicht gross anders aussehen», betont Geschäftsführerin Claudia Strässle. Irgendeinen Eindruck, es könnte in den einzelnen Zimmern oder im Bad nach Heim oder Spital aussehen, wolle die Genossenschaft vermeiden. Im Fokus sind einige Merkmale, die im Neubau ohnehin zur Qualität und zur zweckmässigen Nutzung beitragen: hindernisfreie Zugänge, Erschliessung über Liftanlagen sowie Ergonomie in Bad und Küche.

Die Bewohnerinnen und Bewohner der Siedlung Bergli in Bülach treffen sich monatlich zur Tavolata. Simone Gatti (im Bild rechts) ist in allen neu gebauten Wohnenplus-Siedlungen als Moderatorin aktiv.
Erstmals Generationenwohnen
Die Siedlung Bergli in Bülach hat die wsgz 2017 in Zusammenarbeit mit der Genossenschaft für Alterswohnungen Bülach (GAB) realisiert. Die GAB ist Eigentümerin von neun Wohnungen sowie einer Pflegewohngruppe. Der Anteil der wsgz umfasst rund 40 Wohnungen mit zweieinhalb und dreieinhalb Zimmern. Sechzig Prozent dieser Kleinwohnungen richten sich an die ältere Generation, die restlichen vierzig Prozent werden bewusst an Familien und junge Personen vermietet. Das Vorhaben folgt konsequent der Idee einer Generationenüberbauung. Die Umgebung ist barrierefrei ausgelegt. Im Neubau sind zudem eine Kinderkrippe und ein Volg-Quartierladen integriert. Auch hier geht es laut Geschäftsführerin Claudia Strässle darum, dass die älteren Bewohnerinnen und Bewohner so lange wie möglich in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, gegebenenfalls unter Einbezug der Wohnhilfe und Pflege direkt vor Ort. Die Genossenschaften zeichnen für die Planung und die baulichen Anpassungen verantwortlich. Die Führung der Pflegewohngruppe mit 18 Plätzen ist aber an eine spezialisierte Einrichtung, die Stiftung Alterszentrum Region Bülach, übertragen.
Das Konzept bewährt sich in der Praxis, zumal ganz unterschiedliche Bedürfnisse gut abgedeckt sind. So lassen sich die Wohnungen sehr einfach mit einem Notrufsystem nachrüsten, das mit der Pflegewohngruppe verbunden ist. «In Notfällen steht rund um die Uhr eine medizinisch ausgebildete Fachperson zur Verfügung», erklärt Geschäftsführerin Claudia Strässle. Dies schafft den nötigen Raum, damit auch Menschen mit gewissen gesundheitlichen Einschränkungen eigenverantwortlich leben und wenn nötig Hilfe holen können. Sofern die Pflegebedürftigkeit zunehmen sollte, ist bei entsprechendem Platzangebot ein Wechsel in die Pflegewohngruppe möglich.
Nachbarschaft «moderieren»
Sämtliche Wohnenplus-Siedlungen bieten unter sozialen Aspekten einiges mehr als sonst üblich. Die wsgz arbeitet dazu mit Simone Gatti von der Genossenschaft Zukunftswohnen
2. Lebenshälfte zusammen. Die erfahrene Gerontologin und Organisationsentwicklerin schlüpft dabei in die Rolle der «Siedlungsmoderatorin»; sie trägt zum sozialen Leben und zu Begegnungen bei, fördert eine gute Nachbarschaft und gestaltet die Rahmenbedingungen. Damit ist bereits angetönt, wie sich der Umgang mit dem Thema im Lauf der Zeit verändert hat: Früher ging es darum, ältere Menschen zu «platzieren». Heute decken die Siedlungen deren Bedürfnisse wesentlich umfassender ab. «Im Bergli spielen die sozialen Kontakte und die nachbarschaftliche Hilfe», betont Simone Gatti.
In der Region Bülach sind die entsprechenden Angebote auch bewusst dezentral organisiert. Die meisten Seniorinnen und Senioren, die in der Siedlung leben, kennen sich bereits aus dem Quartier. Sie treffen sich regelmässig zum Kaffee, statten sich gegenseitig Besuche ab und unterstützen sich bei Bedarf im Alltag. Ein gemischtes Publikum findet sich zur monatlichen Tavolata ein. Hier essen Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam zu Mittag und pflegen den Austausch untereinander. Die in der Siedlung eingemietete Krippe liefert in der Regel das Essen. Nebst diesem Mittagstisch gibt es noch viele weitere Begegnungsmöglichkeiten, etwa einen Kaffee- und Spieltreff, von dem sich vor allem Familien mit Kindern angesprochen fühlen. Die Liste liesse sich noch verlängern, etwa mit einer «Lismi-Gruppe» oder in Bassersdorf mit einem «Männerstamm», der von einem engagierten Hobbykoch in der Siedlung initiiert wurde.

Weitere Neubausiedlungen nach dem Wohnenplus-Konzept: Gartenstrasse in Oberglatt und Breitipark in Bassersdorf.

Kooperation mit Gemeinden
Die wsgz hat in all den Jahren eine enge Zusammenarbeit mit den verschiedenen Standortgemeinden gepflegt. Von diesen Kooperationen profitieren letztlich beide Seiten: Die Genossenschaft als gemeinnütziger Bauträger erhält Zugang zu Grundstücken, die mit bestimmten Auflagen verkauft werden. Im Gegenzug hat die Standortgemeinde einen auf Wohnen und auf generationengerechtes Wohnen spezialisierten Partner. «Wann immer möglich suchen wir nach einer Möglichkeit, Grundstücke zu erwerben und nicht im Baurecht zu nutzen», erläutert Felix Hess die Strategie. Das Eigentum biete der Genossenschaft mehr Flexibilität und auch die üblichen Bankfinanzierungen seien mit dieser Variante einfacher zu regeln: «Baurecht mit sehr langen Vertragslaufzeiten birgt immer gewisse Unsicherheiten.» Ist hingegen der Verkauf von gemeindeeigenen Grundstücken der Ausgangspunkt, muss sich der Bauträger ein Stück weit an den Erwartungen und Auflagen orientieren. Meist verhandeln die Vertragspartner über eine gewisse Zweckbestimmung – eben zum Beispiel eine vorgegebene Quote Alterswohnungen für Menschen aus dem Quartier.
Bei allen Vorhaben – ob Neubau, Sanierung oder Ersatzneubau – legt die Genossenschaft Wert auf eine gute Architektur und auf energetische Umrüstungen. Die Entwürfe gehen in der Regel aus Wettbewerbsverfahren hervor. Für die Bauausführung arbeitet die Genossenschaft mit GU- und TU-Verträgen. Da sich der Vorstand vor allem als Fachgremium mit erfahrenen Berufsleuten versteht, begleiten die Architekten im Vorstand die Bauprojekte. Nebst Sachkompetenz in Baufragen sind auch Bankfachleute und Baujuristen in dem Gremium vertreten. Der klassische Weg über Architektenverträge und separate Werkverträge mit Unternehmern komme aber für die wsgz aus Ressourcengründen nicht infrage. Dabei arbeitet die Genossenschaft mit ausgewählten Generalunternehmern zusammen und bedingt sich in vielen Punkten ausdrücklich ein Mitspracherecht aus – auch während der Realisierungsphase.
Zukunftsweisender Holzbau
Die verantwortlichen Gremien haben im Lauf der Jahre auch gelernt, mit den politischen und öffentlichkeitsrelevanten Aspekten umzugehen. Sobald in einer Gemeinde der Verkauf von Grundstücken oder die Einräumung von Baurechten aufs Tapet kommt, sind politische Debatten meist unumgänglich. An einer Gemeindeversammlung oder letztlich in einer Gemeindeabstimmung ist darüber zu befinden, ob dieser Schritt überzeugend begründet und mehrheitsfähig ist. In Bülach wurde zum Beispiel das Referendum gegen die Vorlage des Landverkaufs ergriffen. Oppositionelle Stimmen führten ins Feld, dass der Verkaufserlös möglicherweise unter dem maximal möglichen Verkaufspreis liegen würde. Doch in den letzten Jahren fanden die entsprechenden Vorlagen allesamt eine Mehrheit – in Oberglatt, in Bassersdorf, aber auch in Bülach.
Dem internen Netzwerk im Vorstand ist es zu verdanken, dass die Genossenschaft auf ein Grundstück an guter Lage in Mettmenstetten stiess. Sobald baurechtliche Fragen und hängige Einsprachen geklärt sind, könnte hier schon bald eine weitere Siedlung nach der Wohnenplus-Philosophie stehen. Verkäuferin ist eine Familie aus dem lokalen Gewerbe, die diesen Verkaufsentscheid ganz bewusst gefällt hat. Das verfügbare Bauland soll einem sozialen Zweck zur Verfügung gestellt werden und speziell auch älteren Menschen zugutekommen. Der Entwurf des Zürcher Büros Enzmann Fischer Partner AG mit der dreistöckigen Hofrandbebauung aus Holzelementen überzeugte die Jury. Durch diese Anordnung entsteht ein ausgesprochen attraktiver, grüner Aussenraum. Die Liste anstehender Projekte ist aber noch wesentlich länger: In Zürich Wollishofen laufen Vorbereitungen für Ersatzneubauten, in Kloten sind Verhandlungen mit mehreren Eigentümern im Gang. Die 75-jährige Baugeschichte wird also in den nächsten Jahren noch mit einigen weiteren Kapiteln fortgesetzt.
75 Jahre wsgz: Bürgerlicher Hintergrund
Nach den Statuten ist die wsgz politisch und konfessionell neutral. Sie bekennt sich zum Grundsatz, gemeinnützig und ohne Gewinnorientierung zu agieren. Die Mieten werden nach der Idee der Kostenmiete festgesetzt. Zum Zeitpunkt der Gründung stand die Beschaffung von Arbeit für die Gründerunternehmen sowie die Erstellung preiswerter, gesunder Wohnungen im Fokus. Eine prägende Figur der 75-jährigen Geschichte war der Notar, Unternehmer und Politiker Walter Siegmann. Er war im Jahr 1944 einer der zehn Gründer und amtierte anschliessend von 1948 bis 1999 als Präsident. Einige Eckpunkte der Genossenschaftsgeschichte:
• Zehn bürgerlich und liberal gesinnte Unternehmer und Handwerker gründeten am 3. Oktober 1944 die wsgz. Die Genossenschaft sah sich durchaus als Alternative zu anderen Genossenschaften in Zürich, die eher sozialdemokratisch oder gewerkschaftlich geprägt waren. Den zehn Gründern lag daran, dass auch der bürgerliche Mittelstand von den Arbeitsbeschaffungsaktionen und Wohnbausubventionen der Stadt profitieren konnte.
• Allein in den ersten sechs Jahren realisierte die junge Genossenschaft 268 Wohnungen. Dem Start in Uster folgten Neubauten in Kloten, Adliswil, Uster und Zürich Wollishofen.
• Die intensive Bauphase der Gründerzeit erstreckte sich von 1945 bis 1956; während dieser Zeitperiode erstellte die Genossenschaft 378 Neubauwohnungen.
• Der langjährige Präsident und SVP-Nationalrat Walter Siegmann setzte sich in den 1960er-Jahren für die Einführung des Stockwerkeigentums in der Schweiz ein. In den 1970er- und 1980er-Jahren realisierte die Genossenschaft auch Reihenhäuser, die sie an die Interessenten verkaufte.
• Schon früh widmete sich die Genossenschaft dem Thema Wohnen im Alter. Im August 1965 waren an der Mutschellenstrasse in Zürich die ersten elf Alterswohnungen bezugsbereit. Den damaligen Möglichkeiten und Ansprüchen entsprechend handelte es sich um Einzimmerwohnungen. Die Mieten konnten stark vergünstigt werden, vor allem dank Zuschüssen und Subventionen der öffentlichen Hand.
• 2004 realisierte die wsgz gemeinsam mit der ASIG die Überbauung Trichtenhausstrasse in Zürich Witikon. Die Wohnungen überzeugen durch einen hohen Ausbaustandard, eine barrierefreie und generationengerechte Bauweise sowie eine hohe Qualität der Umgebung.
• In den letzten Jahren hat die wsgz in Bassersdorf, Oberglatt und Bülach Siedlungen mit altersgerechten Wohnungen nach dem Konzept Wohnenplus realisiert. Eine weitere Siedlung ist in Mettmenstetten geplant (siehe Haupttext). Projektiert sind zudem mehrere Ersatzneubauten.