Im Oberfeld bestimmen die Bewohnerinnen und Bewohner selbst über den Aussenraum
Blüemlisalp, Kreta und eine BMX-Cross-Strecke
Eine Siedlung, die im Lauf der Jahre ihre eigene Landschaft hervorbringt – dieses Aussenraumkonzept wird in der Wohnbaugenossenschaft Oberfeld in Ostermundigen (BE) pionierhaft vorgelebt. Begleitet von einem Landschaftsarchitekten bestimmen die Bewohnerinnen und Bewohner selbst, welche Nutzungen sie gestalten wollen. Resultat ist ein ebenso flexibler wie vielfältiger Landschaftspark, wo Privatgärtchen und öffentlicher Bereich stufenlos ineinander übergehen.
Von Elias Kopf | Bilder: Martin Bichsel | August 2017
Über mangelnde Aufmerksamkeit kann sich die Wohnbaugenossenschaft Oberfeld in Ostermundigen (BE) nicht beklagen. Zahlreiche Medien berichteten ausführlich über die mit hundert Wohnungen grösste autofreie Siedlung der Schweiz. Nach jahrelanger Vorbereitung wurde hier 2012 in Holz-Mischbauweise eine umweltbewusste Wohnarchitektur umgesetzt. Auch punkto Haustechnik ist das Oberfeld auf der Höhe der Zeit. So ernten etwa Hybridkollektoren die sommerliche Sonnenwärme und leiten sie mithilfe von Erdsonden in den Untergrund. Im Winter holt man die zwischengelagerte thermische Energie dann mit Wärmepumpenheizungen in die Wohnungen – der Strom für den Pumpenbetrieb stammt ebenfalls vollumfänglich aus den Hybridkollektoren.
Spielerischer Ansatz
Bei den fünf langgezogenen Wohnblöcken, von denen drei zu einem offenen Rechteck zusammengebaut sind, handelt es sich um Minergie-P-Eco-zertifizierte Gebäude, die auch die Anforderungen der 2000-Watt-Gesellschaft erfüllen. Doch wer sich angesichts dieser konsequenten Nachhaltigkeit beim Besuch im Oberfeld auf ein gallisches Dorf voller verbissener Ökofundis gefasst macht, wird angenehm enttäuscht. «Im Oberfeld soll Ökologie Spass machen. Daher gehen wir Probleme wie zum Beispiel die unerwünschte Durchfahrt von Autos konstruktiv und spielerisch an», meint der Landschaftsarchitekt Helmut Walz.
Der Inhaber der IGL Gartenbau AG in Bern konzipiert und realisiert zusammen mit mehreren Anwohnergruppen die Gestaltungsprozesse im Aussenraum. «Statt Fahrverbotstafeln zu malen, haben wir an einem Aktionstag ein paar bunte Pflanztöpfe gestaltet. Diese sind jetzt so platziert, dass jeder Taxifahrer oder Pizzakurier merkt, dass man hier nicht durchfahren sollte, sondern die letzten Meter besser zu Fuss zurücklegt», meint Helmut Walz und zeigt auf ein paar mit Erde gefüllte, üppig mit Ginster und Veronica bepflanzte Metallfässer mitten in der Siedlungseinfahrt.
Kreta oder Blüemlisalp?
Hinter diesem Verkehrshindernis beginnt ein landschaftlicher Mikrokosmos, wo das Gärtchen direkt vor der Parterre-Balkontüre fliessend in den öffentlichen Park übergeht. Mergelwege erschliessen das leicht abfallende Gelände von unten nach oben und zweigen seitwärts zu den Hauseingängen und den mit Sonnensegeln überdachten Sandspielplätzen ab. Dazwischen sowie am Siedlungsrand findet sich Platz für zahlreiche ökologische Nischen. Diese Winkel mit ihrem zwar bewusst angelegten, seither aber dem Zufall überlassenen Bewuchs wirken etwas unübersichtlich und verleihen dem Aussenraum dadurch optische Tiefe. Gleichzeitig findet man hier jene besonders wertvollen Pflanzen, für die im regulären Blumenbeet kein Platz ist. «Da hier die übliche, von Erwachsenen geschaffene Funktionsdefinition fehlt, können sich Kinder solche wilden Ecken beim Spielen nach ihren eigenen Vorstellungen aneignen», erklärt Helmut Walz.
Ebenso augenfällig wie die Vielfalt der Siedlungslandschaft ist der scharfe Kontrast zur angrenzenden «Normal-Agglomeration» mit ihrem biederen Abstandsgrün. Im Oberfeld sorgt allein schon das hauptsächlich aus Schotter und Kies bestehende Bodenmaterial, das Landschaftsbauer Walz bereits beim Aushub beiseitelegen liess, für eine ganz andere Pflanzenwelt als der fette Mittellandhumus. Auf den neu geschaffenen Ruderalflächen gedeihen Blumen wie Honigklee und Karthäusernelken, die man eher auf einer alpinen Magerwiese erwarten würde. Gleich daneben spriessen mediterran wirkende Stauden und Gebüsche – zum Beispiel Purpurweide und Natternkopf. Dieser überraschende Pflanzenmix lässt unweigerlich Feriengefühle aufkommen, wobei allerdings unklar bleibt, ob man sich eher an Kreta oder an die Blüemlisalp erinnert fühlen soll.
Kein Ziel fixiert
Obgleich sich diese Bepflanzung momentan noch als kunterbunte Gemengelage präsentiere, werde sich im Lauf der Zeit eine Ordnung herausbilden, meint Helmut Walz: «Wir haben zusammen mit der Bewohnerschaft zahlreiche Fruchtbäume gepflanzt. Alle hiesigen Obstsorten sind mehrfach vertreten. Diese Bäume werden bis in zehn Jahren zum dominanten Element heranwachsen und zusammen mit den kleineren Gebüschen und Stauden Gemeinschaften bilden.» Ob mit den inzwischen selten gewordenen, in der guten alten Zeit aber landschaftsprägenden Hochstämmern im Oberfeld zusätzlich zum alpinen und zum mediterranen Element eine Prise Gotthelf-Nostalgie Einzug halten wird, bleibt abzuwarten.
Prognosen zur langfristigen Entwicklung der Siedlungslandschaft im Oberfeld sind auch deshalb schwierig, weil kein verbindlicher Endzustand vorgegeben ist. Statt ein Ziel zu definieren, wurde bloss eine grobe Ausgangslage geschaffen, die offen für vielfältige kreative Gestaltungsprozesse ist. Zur fix vorgegebenen Ausgangsstruktur gehört vor allem der Verzicht auf eine Begradigung des Siedlungshangs. «Anfangs gab es durchaus auch die Idee, im Gelände zwei unterschiedlich hoch gelegene, waagrechte Flächen zu schaffen und den oberen und den unteren Siedlungsteil klassisch durch Treppen zu verbinden. Eine solche Terrassierung hätte dem Aussenraum allerdings einen trennenden Charakter verliehen, der das nachbarschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühl untergraben hätte», erinnert sich Helmut Walz.
Gemeinsames und Privates
In der nun gewählten Gestaltungsvariante fliesst die Siedlungslandschaft als verbindendes Element sanft um die Gebäude herum nach unten. Dadurch, dass es nur einen einzigen, zusammenhängenden, nicht mit Geländestufen segmentierten Aussenraum gibt, fühlen sich die Bewohnerinnen und Bewohner frei, Sitzgelegenheiten und Spielgeräte nach Belieben in der ganzen Siedlung zu nutzen. Zwar sind überall Sandspielplätze direkt vor den Wohnungen platziert, damit die Eltern ein Auge auf die jüngsten Sprösslinge haben können. «Aber man darf sein Kind selbstverständlich auch einmal in einen anderen Sandkasten setzen, damit die dort anwesenden Eltern kurz aufpassen, wenn man schnell für einen Einkauf in die Stadt muss», erläutert Helmut Walz den Vorteil eines überall gleichberechtigt nutzbaren Aussenraums.
Kleine private Gärtchen gibt es im Oberfeld aber trotzdem. Die paar Quadratmeter unmittelbar vor einer Parterrewohnung dürfen nach Lust und Laune als individueller Sitzplatz oder als Rosengarten gestaltet werden, solange man keine Trennwände baut und sich nicht hinter Thujahecken verbunkert. Die Bandbreite dieser privaten Nutzungen reicht vom sorgsam mit eigenem Kompost gedüngten Bio-Gemüsebeet über den funktionalen Holzrost-Sitzplatz bis hin zum Spielrasen für die Kinder. Sogar der schüchterne Versuch, ein «Mixed Border» nach englischem Vorbild zu gestalten, ist vor einer Wohnung erkennbar.
Sturzbäche verhindern
Es sind gerade auch diese individuellen Kleinstflächen, die sich je nach den Vorlieben und Einfällen der Bewohnerschaft ständig wandeln, die dem Aussenraum im Oberfeld zu seiner kaleidoskopartigen Vielfalt verhelfen. Damit diese Gärtchen nicht plötzlich mitsamt dem Landschaftspark von einem kräftigen Regenguss weggeschwemmt werden, hat Helmut Walz im gesamten Siedlungshang ein komplexes Stabilisierungs- und Entwässerungssystem umgesetzt, das zugleich auch die behördlichen Vorschriften der Regenwasserversickerung erfüllt. Während Mäuerchen aus grossen, rohen Steinquadern das Erdreich an besonders steilen Stellen stabilisieren, sorgen zahlreiche, natürlich wirkende Unebenheiten im Gelände dafür, dass sich das Regenwasser nicht zum reissenden Bach sammeln kann, sondern fortwährend in die übers ganze Gelände verteilten Versickerungsgruben abläuft.
Diese unterirdischen Wasserschlucker sind teils unter den Sandspielkästen platziert, teils unter den wilden Ökonischen verborgen. Am unteren Ende der Siedlung gibt es zudem mehrere grössere Versickerungszonen – damit auch bei einem Jahrhundertregen kein Wasser aus der Siedlung ins Nachbargelände abfliesst. «Natürlich gerät auf diese Weise immer wieder einmal Schlick in die Sandspielkästen. Wir haben das aber mit den Bewohnern abgesprochen und reinigen oder erneuern den Sand bei Bedarf an gemeinsamen Aktionstagen», erklärt Helmut Walz.
Vielfalt dank Nutzergruppen
Häufig wird an solchen freiwilligen Aktionstagen jedoch nicht aufgeräumt, sondern Neues gestaltet. Inzwischen ist von verschiedenen Anwohnergruppen, die sich in der Siedlung zusammengefunden haben, eine breite Palette von Aussenraumnutzungen geschaffen worden. Besonders gut erkennbar ist dies im breiten Grünstreifen am Ostrand der Siedlung. Dort gibt es einen Gemüse- und Kräutergarten mit zahlreichen Mikrobeeten, einen Holzschuppen für Sauna, Kleintierhaltung und Gartenwerkzeug, einen Grillplatz, einen Schlittelhang, eine Spielwiese, ein paar Parkplätze für motorisierte Besucher und Gäste, eine grosszügige Kompostanlage, ein Robinson-Wäldchen mit alten Bäumen und – auf dem lang gezogenen Schutzwall der ehemaligen Schiessanlage an der Siedlungsgrenze – eine Cross-Strecke für BMX-Velos.
Dieser mehrere Meter hohe Abschlusswall beherbergt auch Totholznischen sowie ein Brombeergestrüpp und stellt nicht zuletzt eine Geländereserve dar, um zukünftige Ideen in die Tat umzusetzen. Eine besondere Attraktion ist das ebenfalls ostseitig zwischen Wall und Siedlung gelegene knietiefe Feuchtbiotop, das im Sommer als Planschteich für die Kinder dient. Trotz allgemeiner Beliebtheit hätten sich wegen des kleinen Weihers komplizierte Diskussionen entzündet, wie Helmut Walz erzählt: «Vor allem bestand die Sorge, dass ein Kleinkind in einem unbeaufsichtigten Moment stürzen und ertrinken könnte. Darum haben wir nun einen Zaun gezogen, den ein Dreikäsehoch ohne Hilfe eines Erwachsenen nicht überwinden kann.»
Konfliktlösung schafft Gemeinschaft
Für die unmittelbar dem Biotop gegenüberliegenden Wohnungen wiederum sei vor allem der Lärm ein Problem, wenn an heissen Tagen von früh bis spät ein Dutzend ausgelassener Kinder im Teich herumtollten. Doch auch hier zeichnet sich inzwischen eine Entschärfung ab. «Wir planen auf der wohnungsabgelegenen Seite des Teichs ein grosses Sonnensegel mit Bänken und Tischen, damit sich die Kinder und die beaufsichtigenden Eltern nicht mehr im Gebäudeschatten unmittelbar vor den Wohnungen installieren», erzählt Helmut Walz.
Er sieht die gelegentlich zähe Lösungsfindung rund um die Aussenraumgestaltung keineswegs als lästige Pflicht: «Ein langfristiges Gemeinschaftsgefühl kann in einer Siedlung am besten entstehen, wenn die Bewohnerschaft ihr Umfeld in eigener Regie kooperativ gestaltet und die damit einhergehenden Konflikte konstruktiv bewältigt. Weil man sich in einem derartigen nachbarschaftlichen Netz wohlfühlt, sinkt die Mieterfluktuation. Und wenn ein Teil der Genossenschafterinnen und Genossenschafter obendrein freiwillig im Aussenraum mithilft, sinken die Unterhaltskosten – auch das kommt der Gemeinschaft zugute.»