Erste fünf «2000-Watt-Areale im Betrieb» zertifiziert

Etappenziel mit Bravour erreicht

Im Januar erhielten die ersten fünf 2000-Watt-Areale die Auszeichnung «im Betrieb» – darunter drei Siedlungen von Baugenossenschaften. Alle haben die gesteckten Ziele mehr als erfüllt und damit den Praxistest erfolgreich bestanden.

Von Leonid Leiva | Bilder: Markus Bühler, 2000-Watt-Areal/Energie Schweiz | Juni 2017

Der Gebäudepark beansprucht in der Schweiz gut vierzig Prozent des Gesamt­energiebedarfs. Um eine nachhaltige Energieversorgung zu erreichen, sind also energieeffizientere Gebäude nötig. Dem trägt das Zertifikat 2000-Watt-Areal Rechnung. Es basiert auf der 2000-Watt-Gesellschaft (siehe Box) und zeichnet grössere Überbauungen aus, die einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und Emissionen für die Erstellung und den Betrieb der Gebäude sowie für die vom Standort ausgehende Mobilität nachweisen können. Träger des Zertifikats sind das Bundesamt für Energie (BfE) und der Trägerverein Energiestadt. Sie verleihen die Auszeichnung, wenn die quantitativen und qualitativen Kriterien nachweislich eingehalten werden.

Kühne Vision wird Realität
Bisher trugen die mit dem 2000-Watt-Label ausgezeichneten Areale nur das Zertifikat «in Entwicklung». Dabei werden lediglich Planung und frühe Entwicklung berücksichtigt. Ist die Realisierung aber so weit fortgeschritten, dass mindestens fünfzig Prozent der Areal­fläche genutzt werden, kann das Label «im Betrieb» angestrebt werden. Dafür müssen sich die Areale einer Überprüfung ihrer Performance unterziehen. Die Daten dazu werden gemessen, durch Befragungen erhoben oder berechnet.
Fünf Areale erbringen nun erstmals den Praxisbeweis. Sie erhielten im Januar 2017 als schweizweit erste das 2000-Watt-Zertifikat «im Betrieb». Drei dieser Areale befinden sich in Zürich (Kalkbreite, Sihlbogen und Hunziker) und je eins in Bern (Burgunder) und Basel (Erlenmatt West). Als Träger der drei Zürcher Siedlungen fungieren die Genossenschaften Kalkbreite, Zurlinden und mehr als wohnen, die anderen beiden befinden sich in den Händen privater Trägerschaften.

Performance überprüft
Als Bewertungsgrössen dienen – bezogen auf die Energiebezugsfläche – der Primärenergiebedarf, dessen nichterneuerbarer Anteil und die Treibhausgasemissionen. Zielwerte für diese Grössen werden in Merkblättern des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins SIA aus den Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft abgeleitet. Die Zielwerte gelten jeweils für eine bestimmte Nutzung (Wohnen, Büro, Schule). Deshalb sind sie für jedes Areal je nach Nutzungsmix unterschiedlich. In die Bilanz einbezogen werden die Graue Energie für die Erstellung, der Betrieb und die vom Standort abhängige Verkehrsleistung der Benutzer.
Alle fünf nun im Betrieb zertifizierten Areale haben den Realitätscheck mit Bravour gemeistert: Die ermittelten Zahlen für Energiebedarf und CO₂-Emissionen aus dem Betrieb und der Alltagsmobilität liegen zwischen 20 und 65 Prozent unter den vorgeschriebenen Zielwerten. Zu den Schlüsselfaktoren zählen die kompakte Bauweise nach Minergiestandard, die konsequente Nutzung erneuerbarer Energiequellen und der weitgehende Verzicht auf Privatautos für die Mobilität. Einzig im Bereich Erstellung schaffen die Areale die Zielwerte punktgenau. Dies liegt daran, dass es beim Bauen immer noch sehr schwierig ist, herkömmliche Bau­stoffe durch umweltschonendere zu ersetzen.

Alle fünf Pilotareale schneiden sehr gut ab: Die Kennzahlen liegen insgesamt (Erstellung, Betrieb, Mobilität) sogar deutlich unter den Zielwerten des 2000-Watt-Areals (100%-Linie).

Auch beim Energiebedarf für den Betrieb wurden die Zielwerte deutlich unterschritten, weil man fast ganz auf nichterneuerbare Primärenergie verzichtete. Ebenfalls sehr gering sind die CO₂-Emissionen.

Individuelle Stärken
Jenseits des ihnen gemeinsamen Strebens nach Energieeffizienz unterscheiden sich die fünf Pilot­areale in vielerlei Hinsicht. Das beginnt schon bei der Arealfläche, die zwischen 6400 (Kalkbreite) und 40 200 Quadratmetern (Hunzikerareal) variiert. Jedes Areal legt den Fokus auf einen bestimmten Aspekt und geht mit eigenen Massnahmen an die Aufgabe heran, den Energieverbrauch zu minimieren. Im Bereich Mobilität beispielsweise fällt zwar bei allen die im Schweizer Vergleich hohe Nutzungsquote öffentlicher Verkehrsmittel auf. Gefördert wird diese aber mit verschiedenen Mitteln. Im Sihlbogen ist ein ZVV-Dauerabo im Mietzins inbegriffen. Bei der Siedlung Burgunder zahlt sich die Lage in Bahnhofnähe aus. Kalkbreite und Burgunder sind «autofrei» und verpflichten die Mieter vertraglich zum Verzicht auf ein Auto. Beim autoarmen Hunzikerareal werden Ausnahmen zugelassen, sofern der Arbeitsweg oder eine Behinderung den Autobesitz rechtfertigen.
Unterschiedliche Wege beschreiten die Areale auch bei der Versorgung mit Wärme und Elektrizität. Das Hunzikerareal, vom BfE als Leuchtturmprojekt ausgewiesen, deckt seinen Wärmebedarf vor allem mit Abwärme aus dem benachbarten Rechenzentrum der Stadt Zürich. Der Strom stammt zu rund 25 Prozent aus Photovoltaikanlagen auf den Dächern. Zudem wird eine hohe Eigenverbrauchsquote des ­Solarstroms erreicht. Erlenmatt West bezieht seinen Strom zu 90 Prozent aus Wasserkraft und zu 10 Prozent aus Windkraft. Der Wärme­energiebedarf wird vollständig mit Fernwärme abgedeckt. Beim Areal Burgunder in Bern Bümpliz tragen neben Fernwärme auch eine Pelletfeuerung und solarthermische Anlagen zur Wärmeversorgung bei. Auch hier spielt Solarstrom eine wichtige Rolle: Die Dachfläche wird von Energie Wasser Bern gemietet und ist mit einer PV-Anlage ausgestattet.

Abweichungen – Beispiel Hunzikerareal
Obwohl die im Betrieb ausgezeichneten Areale bereits handfeste Erfolge vorzuweisen haben, bleiben Fragen ungeklärt. Die Gebäude­tech­nik­ingenieure beschäftigt wie bei anderen ­Objekten auch hier der Befund, dass die Planungswerte beim Energiebedarf in der Praxis teilweise nicht eingehalten werden. Dieser sogenannte Performance Gap tritt auch beim Hunzikerareal auf – allerdings nur bei einigen Gebäuden. Zur Erfüllung des Auftrags als Innovations- und Lernplattform wird der Energieverbrauch der Gebäudetechniksysteme auf dem Areal rund um die Uhr erfasst. Dazu gehören etwa die Lüftungsanlagen, die hier in unterschiedlichen Varianten (Komfortlüftung und Abluftanlagen) verbaut sind.
Bei den Messungen stellte sich heraus, dass die mit Komfortlüftung ausgestatteten Häuser eine höhere, jene mit Abluftanlagen eine tiefere Energiekennzahl aufweisen als erwartet. Der Leiter des vom BfE finanzierten Leuchtturmprojekts, Martin Mühlebach von Lemon Consult, nennt beachtliche Differenzen: «Der Heizwärmeverbrauch übersteigt bei den Häusern mit Komfortlüftung die Planungswerte um den Faktor 2 bis 2,5.» Die Abweichung lässt sich laut dem Experten damit erklären, dass die Gebäude mit Komfortlüftung, verglichen mit anderen Gebäuden auf dem Areal, einen höheren Fensterlüftungsanteil aufweisen. Auch zeigen Messungen in mehreren Wohnungen eher tiefe CO₂-Konzentrationen, was auf eine zu hohe Aussenluftrate hindeutet.
Fest steht für den Ingenieur jedoch, dass die Komfortlüftung tatsächlich einen Gewinn an Behaglichkeit bringt. «In Häusern des Areals, die über keine Komfortlüftung verfügen, klagten bei einer Umfrage mehr Bewohner über das Auftreten von Zugluft.» Einen Lösungsansatz sieht Martin Mühlebach darin, sowohl in Häusern mit Komfortlüftung als auch in jenen mit reiner Abluftanlage mit Aussenluftdurchlässen weniger Luft in die Wohnungen strömen zu lassen. «Auch mit einer reduzierten Luftmenge kann in den meisten Fällen noch eine akzep­table Luftqualität erreicht werden. Dies würde den Strom- und Heizwärmeverbrauch sinken lassen und somit die Energiekennzahl verbessern. Gleichzeitig würde es die Zuglufterscheinungen abschwächen», erklärt er. Er weist jedoch darauf hin, dass die bisherigen Erkenntnisse noch nicht abschliessend gesichert sind: «Die Forschungsarbeiten zur Optimierung der Energieeffizienz auf dem Hunzikerareal laufen noch bis Ende 2017.»

2000-Watt-Gesellschaft und 2000-Watt-Areale

2000-Watt-Areale basieren auf der ­Vision der 2000-Watt-Gesellschaft. Sie entstand Anfang der Neunzigerjahre an der ETH Zürich mit dem Ziel einer nachhaltigen und gerechten globalen Energiezukunft. Dafür müsste jeder Erdenbewohner seinen Energieverbrauch und die von ihm verursachten CO₂-Emis­sio­nen drastisch reduzieren. Konkret wird verlangt, dass der Pro-Kopf-Energieverbrauch bis zum Jahr 2100 weltweit auf eine Dauerleistung von 2000 Watt und die dadurch verursachten Treibhaus­gasemissionen auf 1 Tonne CO₂ pro Person und Jahr gesenkt werden. Zum Vergleich: Im Jahr 2005 lagen diese Werte in der Schweiz bei 6300 Watt beziehungsweise 8,7 Tonnen CO₂. Als Etappenziel für das Jahr 2050 definiert die 2000-Watt-Gesellschaft eine

Dauerleistung von 3500 Watt und Treibhausgasemissionen in Höhe von 2 Tonnen CO₂ pro Person und Jahr.
An diesen immer noch ambitionierten Zwischenzielen orientiert sich auch das Zertifikat 2000-Watt-Areal. Bis jetzt gibt es Zertifikate für Areale «in Entwicklung» und «im Betrieb», neu hinzukommen sollen zudem Zertifikate für Areale «in Transformation».
Bisher wurden 19 Areale zertifiziert. Weitere erfüllen die Anforderungen ebenfalls, haben aber das Zertifikat nicht beantragt. Eine Studie von Wüest Partner aus dem Jahr 2016 beziffert das Potenzial: Kurzfristig, das heisst innerhalb von fünf Jahren, wären 2000-Watt-Areale realisierbar, deren Bewohnerzahl etwa jener der Stadt Winterthur entspricht.