Daniel Blumer vom Kompetenzzentrum gemeinnütziger Wohnungsbau über die Herausforderungen in der Region Bern-Solothurn
«Kleine Projekte auf dem Land sind wie Akupunktur»
Von der Hauptstadt bis zum Bergdorf, vom Wallis bis in den Jura: Der Regionalverband Bern-Solothurn betreut ein grosses Gebiet mit heterogener Genossenschaftslandschaft. Daniel Blumer über die Rolle des Kompetenzzentrums gemeinnütziger Wohnungsbau, die Herausforderungen der regionalen Genossenschaften und Wege, um den tiefen Marktanteil zu erhöhen.
Interview: Liza Papazoglou | Bilder: Fotostudio ph7, zVg | November 2021
Wohnen: Vor zehn Jahren wurde die «Förderstelle gemeinnütziger Wohnungsbau» geschaffen, die Vorläuferorganisation des «Kompetenzzentrums». Der Kanton Bern wollte damit innovative Genossenschaftsprojekte anstossen. Ist ihm dies gelungen?
Daniel Blumer: Ja, insgesamt kann man das so sagen. In den letzten Jahren ist in unserer Region bei den Genossenschaften viel in Bewegung geraten, es gibt neue Projekte, Kooperationen, Weiterentwicklungen. Das ist natürlich nicht das alleinige Verdienst der Förderstelle, sie konnte aber mit den anfänglichen Förderbeiträgen des Kantons unterstützend wirken und entsprach einem grossen Bedarf.
Weshalb?
Im Kanton Bern wurden zwei Drittel der genossenschaftlichen Wohnungen zwischen den 1940er- und den 1960er-Jahren gebaut. Damit stellte sich vielen Genossenschaften die Frage, ob sie nochmals sanieren oder ersetzen sollten. Die meisten waren dafür aber schlecht gerüstet, weil sie über keine professionellen Strukturen verfügten und lange nur den Bestand verwaltet hatten. Kommt hinzu, dass in Biel, Thun und Bern auch die Baurechtsfrage zum Thema wurde. Bei uns stehen Genossenschaftswohnungen mehrheitlich auf Baurechtsland, in Biel etwa sind es achtzig Prozent. Viele Baurechtsverträge standen kurz vor dem Auslaufen, als die Förderstelle lanciert wurde.
Was war die Aufgabe der Förderstelle?
Genossenschaften zu professionalisieren und neue Projekte anzustossen, für die bisher Knowhow oder finanzielle Mittel gefehlt hatten. Mit A-fonds-perdu-Beiträgen wurden Organisationsentwicklungen, Portfolioanalysen, Sanierungskonzepte und Vorprojekte unterstützt. Die Förderstelle half aber auch, den gemeinnützigen Wohnungsbau wieder auf die politische Agenda zu setzen. Als ich anfing, lag im Kanton der Anteil der Genossenschaften bei unter vier Prozent, mit sinkender Tendenz. Damals stand das «Uno-Jahr der Genossenschaften» an. Das war eine ideale Plattform, um das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Wir organisierten eine Ausstellung in Bern und Anlässe in Thun und Biel. Dort begannen die Interessengemeinschaften (IG) aktiv zu werden. Aus dieser Stärkung der Genossenschaftsidee entstanden dann politische Vorstösse.
Zum Beispiel?
In der Stadt Bern gab es die Wohninitiative, die 2014 klar angenommen wurde. Bei einer Auf- oder Umzonung eines Areals muss nun mindestens ein Drittel der Wohnungen gemeinnützig oder preisgünstig sein – ein grosser Erfolg! Im gleichen Jahr wurde Wohnen dann auch zum zentralen Wahlkampfthema. In Biel lancierten Genossenschaftskreise eine Doppelinitiative, die verlangt, dass der Anteil Genossenschaftswohnungen wieder zwanzig Prozent betragen soll und das Areal Gurzelen zur Hälfte gemeinnützig wird. Unterdessen will die Politik sogar hundert Prozent. Was früher undenkbar war, ist heute Common Sense. Die Sensibilisierung ebnete den Boden für weitere Entwicklungen.
Nach vier Jahren lief die Förderstelle aus. Wie ging es weiter?
Ein politischer Anlauf zur Weiterführung scheiterte am Widerstand der bürgerlichen Mehrheit; die parlamentarische Kommission trat nicht einmal auf das Geschäft ein. So sprang der Regionalverband in die Bresche und machte aus der Förderstelle das Kompetenzzentrum gemeinnütziger Wohnungsbau. Es wird vom Verband getragen und über Mitglieder, Sponsoring über Firmenpartnerschaften und Beratungsleistungen finanziert. Am Anfang war es direkt beim Verband angegliedert, 2018 haben wir es in eine eigene GmbH ausgelagert, die dem Verband gehört.
Was war der Grund dafür?
Wir wollten Interessenkonflikte vermeiden. Mittlerweile sitze ich bei Wettbewerben in vielen Jurys ein. Es kommt vor, dass ein Vorstandsmitglied des Regionalverbands mit seiner Genossenschaft bei einem Wettbewerb mitmacht. Durch die GmbH-Struktur ist meine Unabhängigkeit gewahrt. Apropos Juryeinsitz: Der lohnt sich in Bezug auf die Qualitätssicherung wirklich! Es reicht heute nicht mehr, nur Fachjurorinnen aus der Architektur beizuziehen, sondern man sollte gezielt Experten für Gemeinnützigkeit und Sozialplanung mit ihrem Fokus auf Wohnen und Nachbarschaft einladen. Das bewährt sich sehr, die Qualität der Diskussionen in der Jury nimmt objektiv zu. In der Stadt Bern ist der Einbezug unterdessen Standard, ich kann das auch anderen Gemeinden nur empfehlen.
Was gehört sonst noch zu den Aufgaben des Kompetenzzentrums?
Wir beraten Mitglieder und unterstützen sie bei ihrer Weiterentwicklung, bis hin zur Fusion. Am Anfang klären wir gemeinsam die Situation und die Bedürfnisse, danach mache ich die Triage und vermittle Fachleute oder Planungsbüros. Bei neuen aktiven Gruppen geht es meist um die Frage, wie sie eine eigene Genossenschaft gründen oder ob sie – wenn sie keine Liegenschaft haben – sich besser einer bestehenden Genossenschaft anschliessen. Manchmal kommen Firmen oder Planungsbüros zu uns, die im Auftrag einer Gemeinde gemeinnützige Projekte realisieren sollen, aber nicht genau wissen, wie sie das angehen können. Vermehrt moderieren wir auch Partizipationsprozesse, zu so unterschiedlichen Themen wie Ersatzbau, Mietzinsanpassungen, Gestaltung gemeinschaftlicher Bereiche oder Zusammenleben. Mit der Anstellung von Rahel von Arx 2020 konnte sich das Kompetenzzentrum diesbezüglich nochmals verstärken.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Gemeinden?
Das Kompetenzzentrum hat Leistungsverträge mit verschiedenen Gemeinden. Bei der Stadt Bern beraten wir direkt die Behörden, in ihrem Auftrag aber auch Baugenossenschaften, etwa beim Aufgleisen von Arealentwicklungen oder bei der Erneuerungsplanung. In Biel gehöre ich als Vertreter des Regionalverbands der Arbeitsgruppe gemeinnütziger Wohnungsbau an, einer paritätischen Kommission, in der sich der Stadtpräsident, die Amtsleitungen von Liegenschafts-, Bau- und Planungsbehörde sowie Vertreterinnen unserer IG Biel austauschen. In Thun führen wir als Anlaufstelle genossenschaftlicher Wohnungsbau aktuell im Auftrag der Stadt mit benachbarten Genossenschaften, die zusammen 1500 Wohnungen besitzen, Strategieworkshops durch. Würden sie für sich allein planen, gäbe es bei zeitgleichen Um- oder Ersatzbauten Probleme. Dort geht es um sinnvolle Zusammenarbeit und Koordination.
Ihr seid also eine Art Scharnierstelle für übergreifende Themen.
Genau. Das war etwa auch so in Bern beim Warmbächli, heute Holligerareal, wo sechs Gemeinnützige Projekte realisieren. Da hat man es geschafft, dass sehr unterschiedliche Bauträger kooperieren und sich gemeinsam organisieren, etwa bei Entwicklung, Betrieb oder Aushandlung des Wohnungsmixes. Gemeinsam mit dem Regionalverband beteiligt war das Kompetenzzentrum auch an den Verhandlungen über Musterbaurechtsverträge in Bern, Biel und Thun. Da brachten wir unser Knowhow zur Berechnung von Landwerten und Kostenmiete ein und konnten sicherstellen, dass niemand schlechte Deals eingehen musste und es überall vergleichbare Bedingungen gibt.
Der Regionalverband hat 190 Mitglieder und ist für ein Gebiet zuständig, das von den deutschsprachigen Teilen des Wallis und Freiburgs über den Kanton Bern bis zu Solothurn und Olten reicht. Welche Rolle spielt hier der gemeinnützige Wohnungsbau?
Insgesamt liegt der Anteil bei lediglich drei Prozent, wobei es grosse Unterschiede gibt. In Biel ist der genossenschaftliche Wohnungsbestand in zwei Jahrzehnten von fast 20 auf unter 14 Prozent gefallen, in Thun von 14 auf gut 10 Prozent, in Bern liegt er ebenfalls bei 10, in Solothurn bei 1,7 Prozent. Gründe dafür liegen unter anderem in strukturellen Problemen der Genossenschaften, aber auch in mangelnder Förderung; diese wurde in den 1970er-Jahren eingestellt.
Was tut die Branche dagegen?
Wichtig sind Sensibilisierung und politische Initiativen. Die Wohninitiative hat in Bern grosse Flächen freigespielt für den gemeinnützigen Wohnungsbau. Aktuell sind allein auf den städtischen Arealen über 2000 Wohnungen in Planung oder Realisierung – davon über die Hälfte gemeinnützig. Wichtige Wegbereiter waren auch die alternativen Kleingenossenschaften, die die politische Diskussion stark mitprägten; die Projekte realisieren nun in erster Linie aber mittlere bis grosse Genossenschaften, die über die nötigen Mittel verfügen. Letztere decken mit ihrem Massenwohnungsbau ein wichtiges Segment ab, gerade in Berns Westen. In Biel und Thun finden mit etwas Verzögerung nun ähnliche Entwicklungen statt.
Bleiben wir einen Moment bei Bern. Dort stammen zwei Drittel der gemeinnützigen Wohnungen von Unternehmergenossenschaften, gemeinnützigen AG oder Stiftungen und neuerdings Investorengenossenschaften wie «Wir sind Stadtgarten», die die Huebergass gebaut hat. Letztere hat viel Staub aufgewirbelt. Wie stehen Sie dazu?
Wir stellen tatsächlich fest, dass zunehmend neue Mitspieler am gemeinnützigen Markt auftreten. Beispielsweise tun sich Anlagestiftungen mit Architektinnen zusammen und bewerben sich bei Wettbewerben. Wird plötzlich ein Drittel oder die Hälfte von Arealen gemeinnützig bebaut, ist das natürlich auch für Unternehmen interessant. Denn auch bei solchen Projekten lässt sich eine Rendite erwirtschaften. Im Gegensatz zu anderen Projekten erhalten bei der Huebergass die Bewohner nicht nur den Schlüssel zur fertigen Wohnung, sondern auch die Mitgliedschaft zur Genossenschaft. Damit das funktioniert, sollten sie jedoch früh einbezogen und befähigt werden, ihre Aufgaben zu übernehmen. Wenn im grossen Stil genossenschaftlicher Wohnungsbau geschaffen werden soll, ist das durchaus ein ergänzendes Modell, das funktioniert – es erfüllt die Kriterien der Gemeinnützigkeit und ist preisgünstig. Einen Nachteil sehe ich derzeit noch bei der DNA solcher Projekte: Eine Genossenschaft, die für eine einzige Siedlung gegründet worden ist, wächst selten organisch weiter. Das kann langfristig zum Problem werden. Hier haben diese neuen Modelle noch Verbesserungspotenzial.
«Was früher undenkbar war, ist heute ‹Common Sense›.»
Welche Rolle spielen die Gemeinnützigen in Ihrer Region abseits der Zentren?
Kleine Projekte auf dem Land sind wie Akupunktur. Sie ermöglichen an Orten, wo es sonst nur Eigentum und Häuschen gibt, gemeinschaftliches Wohnen. Das sind zwar nur Nischen, sie bieten aber Qualität und zeigen auf, was genossenschaftliches Wohnen leisten kann. All die lokalen Projekte, die in den letzten Jahren zum Beispiel in Beatenberg, Wilderswil, Wynigen, Gimmelwald, Twann, Aegerten oder Leuzingen entstanden, sind eindrückliche Beispiele dafür. Gerade bürgerliche Politiker auf dem Land merken, dass nur Genossenschaften genau die Art von Wohnungen schaffen, die es in ihrer Gemeinde dringend braucht, die der freie Markt aber nicht liefert.
Mit welchen Anliegen kommen ländliche Gemeinden auf Sie zu?
Viele suchen Wege, Junge und Familien vom Wegzug abzuhalten. Wenn man möchte, dass ältere Leute ihre Häuser an Familien weitergeben, braucht es Alterswohnungen. Da diese in Neubauten preislich mit amortisierten Häusern nicht mithalten können, muss man schon grosse Mehrwerte bieten wie Zentrumslage, gute Anbindung, Dienstleistungen, Angebote zum Zusammenleben – und grosszügige Wohnungen zu tragbaren Mieten. Die obigen Beispiele zeigen: Genossenschaften leisten genau das, wenn man ihnen die Chance dazu bietet.
Welche Themen beschäftigen die Genossenschaften in Ihrer Region ausserdem?
Neben der baulichen Erneuerung auf Baurechtsland zählen die Landpreise zu den grossen Herausforderungen. Hinzu kommt, dass wir im Kanton Bern nicht die Möglichkeit haben, Einlagen in namhafter Höhe steuerfrei in einen Erneuerungsfonds einzuzahlen. Die Steuerpflicht führt dazu, dass Genossenschaften zum Teil zu tiefe Rückstellungen für künftige Projekte machen.
Es gibt also Strukturprobleme.
Ja. Ausserdem gibt es in unserem Verbandsgebiet gerade einmal zwei Genossenschaften mit über 2000 Wohnungen. Ein paar wenige haben 300 bis 700 Wohnungen, die meisten aber einen deutlich kleineren Bestand. Die Grossen sind professionell organisiert, und auch die kleinen Selbstverwalteten kommen gut zurecht. Die vielen mittelgrossen Genossenschaften sind aber zum Teil ungenügend aufgestellt. Sie haben keine eigene Geschäftsstelle, sind aber zu gross, um nebenamtlich verwaltet zu werden. Das führt zu Überforderungen. Hier setzt die strategische Beratung des Kompetenzzentrums an. Ich versuche darauf hinzuwirken, dass Mittelgrosse zusammenarbeiten, etwa bei Verwaltung, Unterhalt oder Vermietung, oder sich mit der Idee zur Fusion auseinandersetzen.
Eine Besonderheit Ihres Regionalverbands sind die vier IG Bern und Umgebung, Biel-Seeland, Thun-Oberland und Olten-Solothurn. Welche Funktion haben sie?
Einerseits ist das ein Empowerment. Die lokalen Genossenschaften wollten mehr selbst entscheiden. Die IG verdanken sich aber auch der Tatsache, dass der lokale Bezug in die Politik eminent wichtig ist für Genossenschaften. Die IG sind unterschiedlich stark und aktiv. Vor allem in Biel hat die IG eine bedeutende Rolle und ist als eigener Verein organisiert. Sie ist Verhandlungspartnerin der Stadt bei den Baurechtsverträgen. Aber auch in Thun kommt der IG eine zunehmende Bedeutung zu. Die IG spielen zudem nach innen, für die Identifikation der Genossenschaften, eine wichtige Rolle.
Bietet sich das IG-Modell auch für andere Regionen an?
Ja. Es braucht dafür aber eine gewisse Dichte an Genossenschaften. Und diese müssen auch bereit sein, sich einzubringen. Wobei sich nur schon ein lockerer Austausch lohnt, um Möglichkeiten zur Kooperation zu entdecken. Die IG-Struktur hilft, Kräfte zu bündeln. Starke lokale Strukturen sind sicher ein Vorteil.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft von der Politik?
Dass sie die Qualitäten des gemeinnützigen Wohnungsbaus und seine Rolle für die Stadtentwicklung sieht. Es braucht unterschiedliche Angebote auf dem Wohnungsmarkt, für Leute mit tieferen Einkommen, aber auch für den Mittelstand. Viele Jobs in unseren Städten werden von Menschen ausgeführt, die nur ein begrenztes Budget für die Miete haben. In Bern etwa kann sich die Hälfte der Haushalte nur Wohnungen unter 2000 Franken leisten. Besteht kein entsprechendes Angebot, zwingt man diese Leute in die Agglomeration, mit allen sozialen und Mobilitätsfolgen. Die Politik muss erkennen, dass der Markt nicht von selber genug bezahlbaren Wohnraum schafft. Dafür braucht es klug planende Städte.
Und was wünschen Sie sich von den Genossenschaften?
Dass sie sich vermehrt umschauen und merken: Wir sind zwar einzigartig, haben aber dennoch viele Gemeinsamkeiten mit unseren Nachbarinnen. Wo können wir zusammenarbeiten, wie können wir gemeinsam etwas weiterentwickeln? Wenn das passiert und Solidarität ebenso wie Selbstverantwortung spielt, entstehen wirklich gute Projekte. Dann kann man auch Kraft aufbauen, die auf dem Wohnungsmarkt Wirkung entfaltet.