Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern erneuert Siedlung Weissenstein

Identität bewahrt

Die Siedlung Weissenstein der Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern gehört zu den bedeutendsten Gartenstadtsiedlungen der Schweiz. Dank einer langfristigen und umsichtigen Planung gelang die Innen­sanierung des gesamten Bestandes von über 200 denkmalgeschützten Wohneinheiten. Lob gibt es auch von der Denkmalpflege.

Von Michael Staub | Bilder: Manu Friederich | April 2019

Links und rechts der Dübystrasse zweigen kleine Strässchen ab, gesäumt von Reiheneinfamilienhäusern mit grosszügigen Gärten. Unter den kahlen Bäumen spriessen Schneeglöckchen und Krokusse, und eine Kohlmeise unterbricht das Tschilpen der Spatzen. Gerade in Zeiten der Innenverdichtung wirkt die Siedlung Weissenstein wie ein Idyll. Die Gründer dieser Gartenstadt waren jedoch keine Romantiker, sondern bodenständige Eisenbahner. Die Hindernisse, die sie überwinden mussten, spiegeln sich symbolhaft in den Strassennamen. Lötschbergweg, Gotthardweg und Simplonweg sind zu passieren, bis am Brünigweg die Geschäftsstelle der EBG Bern auftaucht. Im Entree hängt eine alte Kondukteurtasche, daneben der steife SBB-Hut. Doch im Jubiläumsjahr geht es nicht um Eisenbahnromantik. Zum 100. Geburtstag schenkt die Genossenschaft den Bernerinnen und Bernern das Theaterstück «Tüüfelskreis» unter Regie von Livia Anne Richard.

Gesamtlösung statt Flickwerk
Das Vergnügen folgt auf die Arbeit. Denn von 2010 bis 2015 hat die EBG praktisch alle Einheiten ihrer Siedlung, also 214 Häuser, saniert. Im alten Zustand befinden sich nur noch die Geschäftsstelle sowie ein Gebäude, in dem die Stadt Bern einen Kindergarten untergebracht hat. Wie gelang dieses ehrgeizige Projekt? «Durch eine sorgfältige Planung und den Einbezug der Genossenschafterinnen und Genossenschafter», sagt Rolf Schneider, Geschäftsführer der EBG Bern. Als er 2009 sein Amt ­antrat, hatte die Genossenschaft den Sanierungsstau bereits erkannt. Mit zwei Musterhäusern wurden zwei Sanierungsvarianten umgesetzt, beim Auszug von Mietparteien wurde ihre Einheit entsprechend saniert. «Für jedes einzelne ‹Hüsli› brauchten wir damit eine Baubewilligung. Das war einfach kein Zustand», sagt Rolf Schneider.
Deshalb erarbeitete die Bau- und Unterhaltskommission zusammen mit der Geschäftsstelle in kurzer Zeit ein Gesamtkonzept für die etappierte Sanierung der ganzen Siedlung. Bei der ersten Informationsveranstaltung im Herbst 2009 stiess das Vorhaben auf heftige Kritik und wurde zurückgewiesen. Vor allem zwei Punkte stiessen auf Widerstand: einerseits die Erhöhung der Mietzinse von durchschnittlich 600 bis 900 Franken auf rund 1675 Franken pro Monat, andererseits die Vereinheitlichung des Ausbaustandards. Beide Konfliktpunkte waren aus einer stillschweigenden, aber jahrzehntelangen Praxis entstanden. Denn die EBG verlangte zwar äusserst bescheidene Mieten, investierte jedoch nur wenig in den Unterhalt oder den Ausbau der Häuschen. Deshalb hatten zahlreiche Genossenschafterinnen und Genossenschafter kleinere Umbauten auf eigene Faust vorgenommen und zum Beispiel eine Dusche im Dachgeschoss installiert. Nun fürchteten viele Mietparteien, diese Eigenleistungen zu verlieren und erst noch viel mehr Miete bezahlen zu müssen. Die Verantwortlichen der EBG nahmen diese Kritik auf und gingen über die Bücher. Wenige Monate später, im Frühling 2010, stellten sie das revidierte Projekt vor. Dieses nahm Rücksicht auf die kritisierten Punkte.

Die 212 Reiheneinfamilienhäuser unterscheiden sich sowohl in der Geschosszahl als auch in den Details – und bilden doch eine Einheit.

Wohnungs-Schach
Um insbesondere älteren Mietparteien mehr Spielraum zu geben, lancierte die EBG Bern das Programm «80 plus». Wer ihm beitrat, musste sein Haus erst in der letzten Etappe sanieren lassen und gewann so drei bis vier Jahre Zeit. Die meisten Mieterinnen und Mieter fanden in dieser Zeit eine Lösung. «Einige zogen in die Nähe ihrer Kinder, andere in eine unserer Wohnungen mit Lift, Weitere ins Altersheim», berichtet Rolf Schneider. Das zweite Problem löste die Genossenschaft, indem der Dachausbau vom «Muss» zum «Kann» wurde. Wer auf ihn verzichtete, konnte den Mietzinsaufschlag um 200 Franken senken. Diese Anpassungen überzeugten die Genossenschaftsversammlung. Das auf fünf Jahre angelegte Sanierungsprojekt wurde deutlich angenommen.
Gemeinsam mit dem Architekturbüro startete die EBG die Ausschreibung der Arbeiten. Dazu wählte man nur Firmen aus, die sich bei früheren Umbauten bewährt hatten. Für die Sanierung einer Einheit standen jeweils drei Monate zur Verfügung. Während dieser Zeit konnten die Genossenschafterinnen und Genossenschafter in eines von sechs «Jokerhäusern» umziehen. Eine wichtige Rolle spielten in diesem Prozess zwei pensionierte Genossenschafter. Einer von ihnen amtierte gleichsam als Sanierungsberater und half den Mieterinnen und Mietern bei der Auswahl von Küchenabdeckung und Bodenplatten sowie bei den administrativen Vorbereitungen des Umzugs. Der zweite Genossenschafter, ein früherer Siedlungsverwalter, war für die Kommunikation und Qualitätskontrolle auf der Baustelle zuständig. Dank seinem täglichen Einsatz konnten Missverständnisse behoben und die unvermeidlichen Ärgernisse beim Bauen weitgehend ausgeräumt werden.

Umfangreiche Sanierung
Die technische Innensanierung brachte die Versorgung und Entsorgung aller Häuser auf den aktuellen Stand. Zu diesem Zweck wurden Trinkwasser- und Abwasserinstallationen erneuert, ebenso die Sanitär- und Elektroinstallationen. Die Massnahmen für den Innenausbau wurden von der EBG Bern mit der städtischen Denkmalpflege abgesprochen und von den beteiligten Handwerkern mit grosser Sorgfalt umgesetzt. Der zeittypische Tannenriemenboden in Kinder- und Elternzimmer wurde sorgfältig restauriert und bei schlechtem Zustand mit identischer Materialisierung neu eingebaut. In vielen Wohnzimmern kam originaler Parkett zum Vorschein, der nun dank einem Schliff und einer Versiegelung in neuem Glanz erstrahlt. Ein Bijou sind auch die hölzernen Treppen, die vom Erdgeschoss ins Obergeschoss führen. Der Dachstock wurde gedämmt, mit neuen Dachflächenfenstern und einer zweiten Nasszelle ausgestattet.
Obwohl insgesamt noch viel von der historischen Bausubstanz erhalten ist, gibt es zwischen den einzelnen Wohneinheiten grössere Abweichungen. «In vielen Häusern und Wohnungen haben die Bewohnerinnen und Bewohner im Lauf der Jahrzehnte verschiedene Umbauten vorgenommen, etwa den Einbau einer Dusche oder von Dachflächenfenstern», berichtet Rolf Schneider. Manchmal wurden auch die Einbauschränke oder das Brusttäfer im Esszimmer in Eigenregie entfernt. Durch diese Mieterumbauten zeigt der Innenausbau kein durchgängiges Bild, sondern vielmehr eine grosse Varianz verschiedener Zustände. Durch die sukzessive Vereinheitlichung der Fassadenfenster und – bis auf eine Handvoll Ausnahmen – auch der Dachfenster ergibt sich trotzdem ein stimmiges Bild.

Einblick in ein renoviertes Haus am Rickenweg 31.

Denkmalpflegerisch gelungen
«Die Häuser sind den Bedürfnissen des modernen Lebens und Wohnens angepasst worden und konnten dennoch ihre Identität vollumfänglich bewahren», sagt Jean-Daniel Gross von der Denkmalpflege der Stadt Bern. Bei allen Entscheiden habe man darauf geachtet, den Innenausbau entsprechend der äusseren Erscheinung der Häuser einheitlich zu gestalten. «Aus denkmalpflegerischer Sicht ist die Innensanierung gelungen», resümiert Jean-­Daniel Gross. Die Zusammenarbeit mit der EBG basiere auf dem gemeinsamen Bewusstsein für den historischen Wert der Siedlung und sei damit beispielhaft.
«Die EBG kennt die Bedeutung des einheitlichen Erscheinungsbilds und den Mehrwert, den die ungeschmälert erhaltenen Aussenräume darstellen», sagt Jean-Daniel Gross. Die unmittelbar angrenzenden Häuser der Genossenschaft für Strassenbahner und Gemeindeangestellte seien im Lauf der Zeit teilweise an Private verkauft worden. «Daraus ergaben sich unterschiedliche Sanierungsweisen, die sich im heutigen Siedlungsbild unvorteilhaft bemerkbar machen.» Deshalb sei die von der EBG erarbeitete mittel- und langfristige Entwicklungsplanung von grossem Wert.

Ausbau im Dachgeschoss
Das prächtige Weissensteingut am Hauensteinweg besitzt einen Anbau. Dank einem guten Einvernehmen mit der Denkmalpflege kann die EBG Bern im Dachstock vier neue Wohnungen realisieren. Trotz strengen Auflagen wurde die Baubewilligung bereits nach drei Monaten erteilt – die langjährige und sorgfältige Vorbereitung, unter anderem mit einer Machbarkeitsstudie, zahlte sich aus. «Solche Projekte funktionieren nur, wenn man einander zuhört und auf die Bedürfnisse eingeht», sagt Rolf Schneider. Es sei ein Geben und ein Nehmen: «Bei unseren Häusern am Martiplatz verzichten wir auf Aussenlifte. Dafür wurde für die neuen Wohnungen ein Lifteinbau in einem alten Lichtschacht bewilligt, um das Wohnen im Alter zu vereinfachen.»
Im Erdgeschoss des Anbaus waren früher verschiedene Gewerbebetriebe untergebracht. Nun entstehen auf diesen Flächen neue Räume für die Geschäftsstelle der EBG, die das alte Domizil am Brünigweg verlassen wird, sowie ein grosszügiger Gemeinschaftsraum mit angeschlossener Küche. Dort findet unter anderem ein Mittagstisch statt, der von Kindergärtlern bis zu älteren Genossenschafterinnen zahlreiche Menschen vereint. Ebenfalls geplant ist ein Coworking-Angebot mit einigen Arbeitsplätzen.

Baudaten

Bauträgerin:
Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern
Architektur:
Matti Ragaz Hitz Architekten AG,
Liebefeld-Bern
Umfang:
212 Reiheneinfamilienhäuser mit drei
bis sieben Zimmern, Anbau mit neuer

Geschäftsstelle, 4 bestehenden
und 4 neuen Wohnungen,
Gemeinschaftsraum
Baukosten:
56,5 Mio. CHF (ohne Anbauprojekt)
Mietzinse:
1400–1950 CHF inkl. NK

Genossenschaftliche Pionierleistung

1919 wurde die Eisenbahner-Baugenossenschaft Bern (EBG Bern) gegründet. Sie erwarb von der Stadt Bern ein Baurecht für das Weissensteingut, das zwischen Bern und Liebefeld liegt. ­Architekt Franz Trachsel entwarf für die EBG ein Projekt mit insgesamt 234 Wohneinheiten. Fast alle davon sind als Reiheneinfamilienhäuser ausgeführt. Die Bauarbeiten begannen 1920, im selben Jahr erwarb die Genossenschaft auch das um 1780 ­erbaute Gutshaus, einen dreigeschossigen Barockbau.
Nach Meinung von Jean-Daniel Gross, Denkmalpflege der Stadt Bern, stellt die Siedlung Weissenstein «eine Pionierleistung dar, die dank dem klaren städtebaulichen Muster und den einfachen, aber sorgfältig geplanten und ausgeführten Häusern eine starke Identität entwickelt». Sie sei damit so etwas wie eine Inkunabel des Genossenschaftsgedankens, der in den Krisenjahren nach dem Ersten Weltkrieg erstarkte. Auch nach hundert Jahren bewahre die Siedlung die Einheitlichkeit und Authentizität einer Genossenschaftssiedlung aus den 1920er Jahren. Bemerkenswert sei auch, dass das Gartenstadtkonzept nichts von seiner Attraktivität verloren habe, auch wenn die Gärten heute weniger der Selbstversorgung als vielmehr dem Aufenthalt und der Freizeit dienten.