Aus ehemaliger Textilfabrik wird ein Ort bunten Lebens

Den Faden weiterspinnen

Mitten im Toggenburg läuft derzeit eines der ambitioniertesten ­Umnutzungsprojekte einer jungen Genossenschaft. «Stadtufer» ­verwandelt die ehemalige Spinnerei in Lichtensteig (SG) in einen Ort für Kultur, innovatives Wohnen und Arbeiten – urban und ländlich, ­visionär und mit Bodenhaftung. Nach dem Bezug der Gewerbeflächen soll nun Wohnraum für 80 bis 90 Menschen entstehen.

Text: Liza Papazoglou, Fotos: Alex Ochsner, WOHNEN | August 2024

Fenster putzen, Hallenwände streichen oder Foyer einrichten? Wer sich an diesem sonnigen Maitag am Aktionstag der Genossenschaft Stadtufer in Lichtensteig beteiligt, kann aussuchen, wo er oder sie Hand anlegt. Freiwillige Helfer:innen sind alleweil willkommen: Die ehemaligen Fabrikhallen, wo noch bis 2017 riesige Hightech-Spinnmaschinen Spezialgarne herstellten, sind in die Jahre gekommen und befinden sich mitten in einem tiefgreifenden Transformationsprozess.
Zwar wurden Brandschutzwände, Lüftungen, Elektroinstallationen sowie neue Erschliessungswege eingebaut und viele kleine Instandsetzungsarbeiten vorgenommen, so dass bereits Räume an diverse Betriebe vermietet werden konnten, von einer Glasbläserei oder Kunstateliers und Handwerksbetrieben über ein Brockenhaus und ein Tonstudio bis zur Boulderhalle und der Jungen Bühne Toggenburg. Zu tun gibt es aber immer noch an allen Ecken und Enden. Schliesslich muss von der Heizung bis zur Abwasserentsorgung fast die gesamte Infrastruktur erneuert werden, und überhaupt wird erst der kleinere Teil der vier Gebäudetrakte genutzt. Diese wurden zwischen 1819 und 1953 in mehreren Bauetappen erstellt und umfassen insgesamt 7000 Quadratmeter Nutzfläche.

Die ehemalige Textilfabrik wurde in Etappen zwischen 1819 und 1953 erstellt und liegt direkt am Thurufer, unterhalb des historischen Städtchens Lichtensteig.

Von Kunstinstallation bis Jodelklub
Viel Raum also zum Erneuern und Umnutzen, und das bedeutet viel Arbeit. Auch deshalb führt die 2021 gegründete Genossenschaft Stadtufer regelmässig Aktionstage durch. Wie eben wieder an diesem Maitag, wo eine Handvoll Mieter:innen und Projektinteressierte den überhohen Innenwänden mit Malerrollen und literweise weisser Farbe zu Leibe rückt. Zwei Männer gehen derweil mit Glasabziehern gewissenhaft zu Werke, bis der Blick aus der riesigen Fensterfront im zentralen Foyerraum wieder ungetrübt auf die Thur fällt, die nur ein paar Meter unterhalb der Gebäude ruhig dahinfliesst. Bis zum Abend ist das ganze Foyer geputzt, und Pflanzkübel gruppieren sich mit Secondhand-Möbeln zu gemütlichen Sitzecken. Die Bar-Crew des Jungen Theaters empfängt erste Gäste. Auf dem Programm steht ein Konzert des Jodelklubs Wattwil – ungewohnte Klänge im Stadtufer. Doch genau so soll es hier sein: offen für alle und alles, kreativ, begegnungsfördernd, entwicklungsfähig.
«Wir wussten von Anfang an: Wir können nichts machen, wo die Bodenhaftung fehlt», meint Daniel Fuchs. Der Architekt gehört zu einem Trio befreundeter Personen aus Zürich, die das Fabrikareal bei der Thurbrücke unterhalb des historischen Städtchens Lichtensteig zusammen mit einer Gruppe lokal verankerter Leute entwickeln wollen. Ein lebendiger Ort für Kultur, innovatives Wohnen und Arbeiten soll hier entstehen, der Einheimische ebenso anspricht wie Gäste und Zuzüger:innen von ausserhalb. «Hier einfach ein ‘Stadt-Ufo’ landen zu lassen, würde nicht funktionieren. Wir brauchen die Verankerung vor Ort und haben auch ein ganz gemischtes Team, vom hier geborenen Schreiner bis zur zugezogenen Künstlerin», sagt Fuchs. Innovation wird dennoch ausdrücklich angestrebt: sozial, nachhaltig, inklusiv, partizipativ und gemeinschaftlich soll das Stadtufer werden, auch beim Wohnen.

Die Räume werden in Rohbaumiete vergeben und von den Mieter:innen selbst ausgebaut. Das wird auch beim Wohnteil so gehandhabt werden. Allgemeinräume wie das Foyer werden an Aktionstagen mit Freiwilligen aufgefrischt.

Vorbildliche Stadtentwicklung
Mit ihrem Projekt steuert die junge Genossenschaft ein weiteres Puzzleteil zur erstaunlichen Wandlung des schmucken historischen Städtchens Lichtensteig bei. Das einst blühende Zentrum des Toggenburgs hatte seit dem Niedergang der Textilindustrie ab den 1970er-Jahren mit Abwanderung und ihren Folgen zu kämpfen: Steuerschwund, Verödung, Ladenschliessungen, noch mehr Abwanderung. Bis ein innovativer Stadtpräsident und eine vorwärtsschauende Bevölkerung vor gut zehn Jahren die Trendwende einläuteten. Leerstehende Gebäude werden seither günstig für Menschen und Ideen geöffnet, so dass unter anderem das weit ausstrahlende Rathaus für Kultur, ein Co-Working-Space oder ein 24-Stunden-Bierladen entstanden sind. Es herrscht Aufbruchstimmung, Menschen ziehen wieder hierher. Ein Engagement übrigens, für das Lichtensteig 2023 den Wakkerpreis vom Schweizer Heimatschutz erhalten hat.
Lichtensteig hatte die Weichen in Richtung Zukunft also bereits gestellt, als 2017 mit der Fein-Elast Grabher die letzte Textilfabrik ihre Tore schloss. Die Gemeinde zonte das Areal rasch von einer Industrie- zu einer Wohn- und Gewerbezone um und suchte nach einer Trägerschaft, die es übernehmen und entwickeln konnte. Dafür organisierte sie mehrere Workshops, und sie holte die gemeinnützige Stiftung Edith Maryon mit an Bord, die Land der Spekulation entziehen will. Auf diesem gut vorbereiteten Boden entwickelte eine kleine Gruppe engagierter Men­schen in der Folge ihr Projekt.

Hallenwohnen bietet sich im Stadtufer an, vorgesehen sind aber auch kleinere Einheiten. Dabei setzt man auf Selbstausbau – so wie bei den bereits eingebauten Boxen des «Atelier im Fluss» (Bild unten).

Guter Start, fordernde Entwicklung
Ab 2020 wurde das Areal mit Veranstaltungen und Zwischenvermietungen aktiviert. Anfang 2021 gründete sich die Genossenschaft, ein Jahr später konnte diese – mittlerweile auf über 150 Mitglieder angewachsen – das Areal von der besitzenden Stiftung im Baurecht auf 90 Jahre für 1,2 Million Franken kaufen. Möglich machten dies neben dem Anteilkapital öffentliche und vor allem viele private Darlehen, die die Genossenschaft über ihre Netzwerke organisieren konn­te. Auch diejenigen Bauarbeiten, die sie nicht selbst auszuführen vermochte, hat die Genossenschaft auf diese Weise finanziert. Gemeinde und Kanton stellten zudem zu Beginn Fördergelder von insgesamt 130 000 Franken zur Verfügung, mit denen eine Bestandesanalyse zur Gebäudesubstanz und Schadstoffbelastung, eine organisatorische Pro­zessbegleitung und der Aufbau der betrieblichen Infrastruktur finanziert wurden. «Im Vergleich zu anderen Projekten ist das natürlich ein absolutes Privileg», ist sich Fuchs bewusst.
Dennoch war der Aufwand, den die kleine Kerngruppe zusammen mit vielen Freiwilligen in unzähligen ehrenamtlichen Stunden in den Aufbau steckte, riesig. Mittlerweile ist der grösste Teil der gewerblich nutzbaren Flächen an eine «coole und diverse» Mieterschaft vergeben, wie Fuchs sagt, und der Betrieb erfolgt praktisch kostendeckend. Nun steht aber der nächste grosse Hosenlupf an: das Wohnprojekt. Die Vision dafür ist bereits ziemlich konkret – und sie ist ambitioniert: Die Hälfte der Nutzfläche soll in Wohnraum für 80 bis 90 Menschen umgewandelt werden. «Die teilweise über vier Meter hohen, lichtdurchfluteten Hallen bieten sich dafür an. Sie ermöglichen insbesondere auch innovative Formen wie Hallen- und Atelierwohnen, aber auch kleine Einheiten von etwa 50 Quadratmetern», erklärt Architekt Fuchs.

Urban wohnen in ländlichem Umfeld
Abholen will man damit alle: Junge, Familien und ältere Leute aller Couleur und Herkunft. «Bis jetzt interessieren sich ganz unterschiedliche Menschen für das Projekt. Sie wollen aufs Land ziehen, aber nicht ins Einfamilienhaus, sondern suchen etwas Besonderes», sagt Jonas Elinor Jakob. Der Raumplaner ist seit Beginn beim Projekt dabei, ist im Stadtufer-Vorstand und angestellt im Bereich Finanzen und Personal. Ein Grossteil der Wohn­einheiten soll hindernisfrei sein, vorgesehen sind zudem Laubengänge, viele gemeinschaftlich nutzbare Räume und eine offene Erschliessung zum flussseitigen Aussenraum, der noch aufgewertet wird.
Der erste kleine Schritt Richtung Hallenwohnen ist bereits gemacht. Eine Gruppe
von Ateliernutzenden ist daran, einen Verein zu gründen, der eine 450 Quadratmeter gros­se Halle im ersten Stock des Nordbaus mietet und gemeinsam in partizipativen Workshops entwickelt. Vorderhand steht die ge­mein­same Ateliernutzung im Vordergrund, Fernziel ist aber eine gemischte Nutzung mit Wohnen und Arbeitsmöglichkeiten.
In allen drei ehemaligen Fabrikgebäuden soll künftig in den oberen Geschossen gewohnt werden. Das älteste von 1819 steht unter Denkmalschutz und weist einige statische sowie vor allem brandschutztechnische Knacknüsse auf, und das Dach ist arg lädiert. Auch wie weit eine mögliche energetische Sa­nierung gehen und wie sie etappiert werden soll, ist noch offen. Grundsätzlich ist man aber von der baulich-technischen Umsetzbar­keit der Wohn­nutzung über­zeugt. Bis dafür ein Bauprojekt vorliegt, dürfte es allerdings noch mindestens ein Jahr dauern; zuerst wird die Gewerbesanierung mit Fokus Brandschutzmassnahmen abgeschlossen. Die Genossenschaft steht in engem Kontakt mit den Behörden. «Wir spüren da sehr viel Goodwill. Anders wäre so ein anspruchsvolles und gros­ses Projekt gar nicht umsetzbar,» sagt Fuchs.

Die hohen, lichtdurchfluteten ehemaligen Spinnereihallen sind bereits an Ateliers, Kunsthandwerk- und Gewerbebetriebe ­vermietet. In Workshops wird das Projekt schrittweise partizipativ weiterentwickelt.

Knackpunkt Finanzierung
Ein Nutzungsszenario fürs Wohnen steht bereits, wird aber zusammen mit den künftigen Bewohner:innen noch justiert werden. Den industriellen Charme der Anlage und möglichst viele bestehende Strukturen und Elemente will man beibehalten. Dabei setzt Stadt­ufer auf Selbstausbau und wie schon beim Gewerbe auf Rohbaumiete. So werden die künftigen Bewohnenden Art, Standard und Kosten des Ausbaus weitgehend selbst bestimmen. Das ist Konzept, soll aber auch helfen, die Mieten wirklich günstig zu halten. Ob Küchen und Bäder bereitgestellt werden, wird noch evaluiert. «Von Behördenseite her können wir durchaus radikale Konzepte realisieren», weiss Fuchs. Im Übrigen baut die Genossenschaft schon länger ein Materiallager auf, um möglichst viele gebrauchte Bauteile wiederverwenden zu können, etwa für Trennwände oder Türen. Beim Rest sollen Naturmaterialien zum Einsatz kommen.
Der Planungsprozess bleibt offen. Fuchs: «Wir bauen etappiert und nach Bedarf aus. Wir haben bereits eine Interessiertenliste, werden im Sommer aber nochmals eine Ausschreibung machen. Wer mitmachen will, kann dann die Weiterentwicklung und das Wohnprogramm mitgestalten.»
Offen ist ein weiterer Punkt, und zwar der zentrale: die Finanzierung. Für die Umbauetappe zur Wohnnutzung muss die Genossenschaft richtig viel Geld aufbringen. Mit der Schätzung von Baukosten und Mietertrag wird Stadtufer bei den Banken wiederum Klinkenputzen gehen. Davor aber werden noch einmal im grossen Stil Unter­stüt­zer:innen gesucht, die der Genossenschaft mit Anteilscheinen und Darlehen zu Eigenkapital verhelfen. Denn aus den Geldtöpfen für gemeinnützigen Wohnungsbau werden nur Projekte mit einem Wohnanteil von mindestens 80 Prozent gefördert.

Gemeinsam weitermachen
Stadtufer muss sich also anderweitig finanzieren und steht damit vor der gleichen He­rausforderung wie ähnlich ausgerichtete Ini­tiativen, die Wohnen mit Kultur und Arbeit verbinden möchten. Für ein eher junges Team, das teilweise ganz andere berufliche Hin­tergründe hat, ist das kein einfaches Unterfangen, findet Jakob. «Wir mussten uns entsprechende Finanzkenntnisse und diverse andere Kompetenzen erst aneignen. Das ist anspruchsvoll und erfordert ein hohes Mass an Herzblut und Frustrationstoleranz.»
Neben der Wirtschaftlichkeit sieht er in der Schaffung funktionierender Strukturen eine weitere grosse Herausforderung. Strukturen seien nötig, gleichzeitig will man beim Stadtufer nicht Top-down verordnen, sondern das Projekt partizipativ entwickeln. Alle sollen sich einbringen, engagieren und identifizieren können. In der Praxis ist dies nicht immer einfach. «Aber wir sind auf dem richtigen Weg und haben zusammen bereits viel erreicht.» Das werde auch von aussen wahrgenommen und geschätzt. «Wir nehmen nun auch die zweite Etappe sportlich und mit Zuversicht», sagt Jakob.
Das gemeinsame Wirken hat sich bis jetzt bewährt. Es hat Neues ermöglicht, Begegnungen geschaffen, Welten zusammengeführt. Auch an diesem Aktionstag im Mai, wo der Jodelklub Wattwill im Stadtufer Neuland betritt, und manche Städter:innen zum ersten Mal in ihrem Leben ein solches Konzert live erleben.

www.stadtufer.ch