Warum der Erhalt bestehender Bausubstanz so wichtig ist

«Man muss aus der Not eine Tugend machen»

Die Umnutzung von bestehenden Gebäuden ist aus ökologischen Gründen das Gebot der Stunde. Der Architekt Tilman Rösler hat verschiedene solcher Projekte begleitet und umgesetzt. Im Interview erklärt er, welche Chancen Umnutzungen bieten und warum ihre Planung oft nicht ganz einfach ist.

Interview und Foto: Daniel Krucker

Wohnenextra: In grossen Städten und Tou­rismusorten herrscht Wohnungsmangel oder sogar Wohnungsnot. Die Diskussion, welche Rezepte zu mehr Wohnraum führen, wird gerade heiss geführt. Eine Mög­lichkeit ist, leerstehende Büro- und Gewerbeflächen umzunutzen. Wie gross ist dieses Potenzial?

Tilman Rösler: Das Umnutzungspotenzial dieser Flächen ist meiner Meinung nach enorm. Leider muss ich aber gleich eine Einschränkung anfügen. Daraus Wohnungen zu formen ist alles andere als einfach und kann sehr aufwändig sein, weil oft radikale Einschnitte nötig sind. Darum sind solche Umbauten nicht unbedingt die günstigste Variante. Preislich attraktive Wohnungen realisiert man im Neubau einfacher, weil sie auf dem Reissbrett entstehen und so effiziente und knapp geschnittene Grundrisse möglich sind. Trotzdem bin ich der Meinung, dass wir – insbesondere aus ökologischen Gründen – viel mehr aus dem Bestehenden heraus denken müssen. Denn der Erhalt vernichtet viel weniger Wert als ein Ersatz.

Was sind die grössten planerischen Herausforderungen bei einer Umnutzung?

Bei Büro- und Gewerbeflächen arbeitet man oft mit extremen Übertiefen. Das ist sehr anspruchsvoll, weil die bestehenden Strukturen einen grossen Einfluss auf die Wohnungsgrundrisse haben. Es entstehen dabei zum Beispiel sogenannte Ein-Fenster-Wohnungen, was vielleicht nicht so attraktiv ist. Auch die Raumeffizienz ist bei der Umnutzung eines Bürogebäudes nicht immer optimal. Ein gewisses Mass an Platzverschwendung ist manchmal nicht zu vermeiden. Mietende haben zwar nichts gegen eine breite Gangzone, das treibt aber den Flächenverbrauch in die Höhe. All diese Voraussetzungen und auch die Baugesetze mit ihren strengen Vorgaben bei Umnutzungen zwingen nicht selten zu einem tiefen Eingriff.

Wie schafft man es bei diesen Herausforderungen dennoch, dass die Mieten bezahlbar bleiben?

Man muss am Komfort sparen und darum aus der Not eine Tugend machen. Das gilt vor allem für Oberflächen und Ausbaustandards. In der Schweiz hat sich in den letzten Jahrzehnten – nicht nur im Wohnungsbau – alles auf ein wahnsinnig hohes Niveau hochgeschaukelt, das eigentlich völlig übertrieben ist. Da muss ein Umdenken stattfinden. Auch wegen des Klimawandels, zu dem die Baubranche wesentlich beiträgt, sind wir angehalten, vermehrt Kompromisse einzugehen.

Bei einer Umnutzung stellt sich auch die Frage, wie viel vom Alten oder der ursprünglichen Nutzungsidee gerettet werden soll. Welche Priorität haben Sie diesem Aspekt bei Ihren bisherigen Projekten eingeräumt?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Den Charakter eines bestehenden Gebäudes zu erhalten, wirkt identitätsstiftend und stellt darum einen Wert für sich dar. Bei einem aktuellen Projekt hier in Bern haben wir uns deshalb entschieden, ein Gebäude als Ganzes an einen anderen Platz auf dem Areal zu verschieben. Das lohnt sich zwar finanziell nicht unbedingt, aber für die Atmosphäre ist es entscheidend. Es ist doch so: In einer über die Jahrzehnte gewachsenen Umgebung fühlt man sich automatisch wohler und daheim. Reine Neubaugebiete können das nicht leisten.

Es ist der Traum vieler Menschen, eine stillgelegte Fabrik oder eine nicht mehr genutzte Gewerbefläche in Wohnraum umzuwandeln und dort in einer Gemeinschaft mit Gleichgesinnten zu leben. Was raten Sie Leuten, die eine solche Idee verfolgen?

Ich schaue mir oft ausgeschriebene Liegenschaften an und muss leider sagen: Es ist extrem ernüchternd, denn meistens sind ein Kauf und Umbau schlicht zu teuer. In den letzten drei Jahren hatten wir eine Bauteuerung von 15 Prozent und die Zinsen sind auch gestiegen. Das hat alles ziemlich durcheinandergewirbelt. Wenn sich aber etwas konkretisiert, muss zuallererst genau gerechnet werden, ob es zahlbar ist, also welche monatliche Zinsbelastung auf einen zukommt. Im Moment sind solche Projekte meistens ein extremer Glücksfall.

Was ist Ihr Fazit aus Ihrer bisherigen praktischen Erfahrung mit Umnutzungen?

Wir haben den Fokus immer stark auf die Wohnqualität gelegt. Wir wollen, dass die Menschen sich wohl fühlen und die Gebäude angenommen werden. Dazu gehören auch Gemeinschaftsräume. Altbauten bieten oft schönere und spannendere Räume. Beim Erhalt und der Umnutzung von bestehenden Gebäuden geht es meiner Meinung nach aber mittlerweile fast mehr um die Ökologie. Mehr Wohnraum schafft man beispielsweise auch durch Aufstockung, das ist ein grosses Thema. Und es braucht beim Bauen eine neue Denkweise. Energievorschriften beispielsweise sind wichtig und gut. Aber vor dem Hintergrund des Klimawandels werden noch viel zu wenig neue Ideen diskutiert. Man könnte sich beispielweise auch fragen, wie viel CO2 ein Gebäude bei der Erstellung überhaupt ausstossen darf. Ich glaube, die logische Folge wäre, dass automatisch mehr Substanz stehen bleiben würde. Solche Aspekte könnte man mit den Baugesetzen steuern.

Zur Person

Tilman Rösler hat an der ETH Zürich Architektur studiert und ist seit 1993 als selbständiger Architekt in Bern tätig. Er ist Vorstandsmitglied des Verbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz und des Regionalverbandes Bern-Solothurn und engagiert sich in verschiedenen Baugenossenschaften.