Zwei innovative Köpfe erreichen mit Hilfsplattform ein Riesenpublikum

Hunderttausend Helfende

Im Lockdown war von einem Tag auf den anderen Hilfe gefragt – insbesondere für Menschen, die einer Risikogruppe angehören. Auch Hilfswillige gab es sofort viele. Wie aber die Leute zusammenbringen? Micha Küchler und Alessandro Iacono hatten einen Geistesblitz und lancierten innert Stunden die digitale Plattform hilf-jetzt.ch.

Interview: Daniel Krucker | Bild: zVg | August 2020

Wohnenextra: Mit der Plattform hilf-jetzt.ch haben Sie offenbar zum richtigen Zeitpunkt das richtige Angebot geschaffen. Wie sind Sie auf die Idee gekommen?
Alessandro Iacono (AI): Etwa eine Woche vor dem Lockdown haben wir auf unseren privaten Social-Media-Kanälen gemerkt, dass immer mehr Leute ihre Hilfe anbieten und sich Gruppen gründen. Uns war schnell klar, dass es ein Riesenchaos geben könnte, wenn es nicht gelingt, die angebotene Hilfe und die Hilfesuchenden einfach und unkompliziert zusammenzubringen. Im Grunde war es ein Geistesblitz, all die Angebote und Nachfragen zu bündeln. In etwa vier Stunden haben wir die Website aufgesetzt und sind am Mittag vom 13. März live gegangen. Über das erste Wochenende ging es so richtig ab, über 100 Gruppen sind hinzugekommen und haben sich über die Plattform koordiniert. Dann sind die Medien auf uns aufmerksam geworden und die Plattform hat weiter an Fahrt gewonnen.

Wie viele Gruppen haben sich auf der Plattform registriert und vor allem auch: Wie viele Helferinnen und Helfer waren und sind dabei?
Micha Küchler (MK): Es haben sich etwa 1100 Gruppen auf der Website eingeschrieben. Durch Umfragen haben wir herausgefunden, dass etwa die Hälfte der Angebote auf Einzelinitiativen zurückgeht. Das sind Leute, die für ihr Dorf oder ihr Quartier einfach mal einen WhatsApp-Chat starteten und so Leute gewinnen konnten. Wir haben auch gehört, dass viele Menschen durch Mund-zu-Mund-Werbung dazu motiviert wurden, selber an ihrem Wohnort etwas auf die Beine zu stellen. Was die Helfenden betrifft: Zu ihnen haben wir eine Schätzung gemacht, und zwar ebenfalls aufgrund einer Umfrage. Gemäss der Rückmeldungen sind wohl rund 100 000 Helferinnen und Helfer dabei.

Wissen Sie auch, wie viele Menschen um Hilfe nachgesucht haben?
AI: Ja, auch dazu haben wir mit einer Umfrage Daten ermittelt. In den ersten zwei Wochen des Lockdowns wurden demnach etwa 26 000 Hilfsaktionen durchgeführt. Nachgefragt wurden vor allem Einkäufe, das Besorgen von Medikamenten oder das Ausführen von Tieren. Mit der Zeit wurden aber auch andere Dinge wichtig – die Leute aus der Isolation zu holen, zum Beispiel. Und gegen Ende des Lockdowns ging es zunehmend darum, die Menschen telefonisch zu kontaktieren oder mal ein Balkongespräch zu führen. Gerade diese weichen Faktoren bleiben wichtig, weil für die Risikogruppen trotz den Lockerungen das Ganze noch nicht vorbei ist und sich viele wohl auf unbestimmte Zeit noch stark schützen werden müssen.

hilf-jetzt.ch erlaubt es, rasch und unkompliziert Hilfe anzubieten oder zu finden. Die Website enthält viele weitere nützliche Tipps für Freiwilligenengagement.

Alessandro Iacono (links) ist Mitgründer von digital/organizing. Die Agentur entwickelt Stra­tegien für politische Kampagnen und zeigt Kunden, wie sie das Potential von digitaler Kommu­nikation nutzen können. Micha Küchler (rechts) arbeitet als Kampagnenmanager bei digital/organizing. Er wohnt und engagiert sich in einer kleinen Wohnbaugenossenschaft in Bern.

Wie hat die ältere Bevölkerungsgruppe den Weg auf die Plattform gefunden?
AI: Man unterschätzt stark, wie viele ältere Leute zum Beispiel mit einem Familienchat auf WhatsApp sind. Gerade WhatsApp ist in allen Gesellschaftsschichten mittlerweile breit angekommen. Wir haben aber den Gruppen empfohlen, dass sie Briefe in Hauseingängen und auch sonst im Quartier aufhängen und vor allem eine Telefonnummer angeben, damit jemand, der Hilfe sucht, sich direkt bei ihnen melden kann. Die Aufgaben selber können dann immer noch innerhalb der Gruppe aufgeteilt werden. Aber wichtig war, dass ein Kontakt analog hergestellt werden konnte. Wir haben stark versucht, die Gruppen dazu zu motivieren, direkt oder telefonisch erreichbar zu sein, weil doch ein grosser Teil der Risikogruppe nur so erreicht werden konnte. Ich bin sicher, dass auf dieser vermeintlich einfachen Ebene extrem viel passiert ist. Die Stärke des Projekts war die Verbindung zwischen Analogem und Digitalem. Die Helferinnen und Helfer konnten wir digital abholen und ihnen auch Inputs geben, wie sie im Analogen arbeiten können.
MK: Die Kommunikation mit den Gruppen ist ein wichtiger Punkt, den Alessandro anspricht. Mit den Gruppen standen wir einerseits mit einem Newsletter in Kontakt, anderseits haben wir eine Support-E-Mail eingerichtet. Wir hatten zeitweise ein Freiwilligenteam von etwa 20 Leuten, die abwechslungsweise während etwa drei Wochen von morgens bis abends diese E-Mail-Adresse bedient haben. Dazu gab es auch einen Informations- und Austauschchat auf WhatsApp und Telegram. Nach etwa drei Wochen waren die Gruppen so weit etabliert, dass diese intensive Abdeckung nicht mehr nötig war.

Denken wir noch etwas über die Pandemie hinaus. Gibt es schon Überlegungen, wie es mit hilf-jetzt.ch weitergehen soll?
MK: Seit ein paar Wochen denken wir tatsächlich über perspektivische Themen nach. Wir kommen aus der Kampagnenecke und sind keine Experten in der Nachbarschaftshilfe. Wir haben weder das Know-how noch die Kapazität, die Plattform längerfristig weiterzuführen. Aber natürlich möchten wir mithelfen, das Potential beizubehalten, und suchen darum nach Partnerschaften, die in diesem Bereich bereits aktiv sind. Den Gruppen sagen wir aktuell: Löst euch nicht auf, wenn es nichts mehr zu tun gibt, sondern geht auf Standby. Wir wissen alle nicht, ob und wann es zu einer zweiten Welle kommt.
AI: Wir haben gesehen, wie viele Menschen doch recht isoliert waren und es auch immer noch sind. Darum ist es schön zu sehen, dass wir einen Beitrag dazu leisten konnten, dass die Leute miteinander reden, dass Gemeinschaftssinn und Solidarität entstanden sind. Viele Leute haben gemerkt, wie viel Potential darin steckt, wenn man sich zusammentut. Die Website selber war nur Mittel zum Zweck. Es sind die Menschen, die wichtig sind.