Auch Aussenräume bestehender Siedlungen besitzen viel Potenzial
Abstandsgrün gestalten
Es gibt sie praktisch rund um jede Liegenschaft: kleine Aussenflächen, die kaum beachtet werden und wenig Nutzen haben. Doch auch sie können so gestaltet werden, dass sie für die Bewohnerschaft und die Natur mehr Nutzen entfalten. Das zeigt das Beispiel der Baugenossenschaft Wiedikon in Zürich.
Von Thomas Bürgisser | Bilder: Thomas Bürgisser, Wohnen | August 2017
Oft ist es dieser schmale, grüne Streifen zwischen Trottoir und Gebäude. Oder die paar Quadratmeter beim Hauseingang, bei den Garageneinfahrten oder rund um den Veloständer. Und schliesslich ist bei vielen Wohnsiedlungen auch der Abstand zwischen den Häusern zu klein, um dort einen vielfältigen Grünraum anzulegen. Gerade bei älteren Liegenschaften ist auf diesen Flächen schlicht Rasen angesät, der von Gärtnerequipen oder Hauswartteams regelmässig gemäht wird, ansonsten aber kaum Beachtung findet oder gar genutzt wird. Als «Abstandsgrün« werden diese Flächen auch bezeichnet. «Ein umgangssprachlicher Begriff, der leider negativ behaftet ist», sagt der Zürcher Landschaftsarchitekt Thomas Kolb. «Dabei könnten auch solche kleinen Flächen einen positiven Effekt haben, wenn sie denn richtig in die Gestaltung integriert würden.»
Neugestaltung wegen Gebäudesanierung
Erst in den letzten Jahren ist der Aussenraum allgemein stärker in den Fokus gerückt. Heute werden kaum noch neue Siedlungen ohne ein professionell erarbeitetes Aussenraumkonzept realisiert. «Da werden auch die kleinen Grünflächen bewusst mit eingebunden», erklärt Thomas Kolb. Während bei Neubauten das typische Rasen-Abstandsgrün also immer mehr verschwindet, geschieht dies bei bestehenden Bauten in den meisten Fällen erst im Rahmen von Sanierungsarbeiten am Gebäude. Dies bestätigt auch das Beispiel der Baugenossenschaft Wiedikon. Sechs Liegenschaften mit Baujahr 1930 besitzt sie an der Steinstrasse und der Austrasse im Zürcher Kreis 3. Wie zu jener Zeit üblich, sind die Bauten quer zur Strasse gestellt, doch findet sich zwischen den Hauszeilen für städtische Verhältnisse viel Grün. Rasenflächen, einige hohe Linden, Kiesplätze, ein Spielplatz, Nutzgärten hinter den Häusern – so präsentierte sich die Überbauung noch vor wenigen Jahren. Ein Aussenraum, der – abgesehen von den Gärten – bis zu diesem Zeitpunkt nur von wenigen Bewohnenden wirklich genutzt wurde.
2013 wurden jedoch neue Balkone angebracht, Aufstockungen erstellt und die Aussenhülle der Gebäude saniert (siehe Wohnen 11/2015). «Während dieser Sanierung haben wir gemerkt, dass ein grosser Teil des bestehenden Aussenraums durch die Arbeiten beschädigt wird. Deshalb wollten wir diesen auch gleich neu gestalten», sagt Charlotte Tschumi, Präsidentin der BG Wiedikon. Den Auftrag zur Neugestaltung erhielten Thomas Kolb (Kolb Landschaftsarchitektur) und seine Berufskollegin Jacqueline Noa (Noa Landschaftsarchitektur). «Die Grundzüge haben wir belassen und nur eine sanfte Überarbeitung vorgenommen, um mehr Struktur hineinzubringen, unterschiedliche Zonen und ein einladendes Umfeld für die Bewohnenden zu schaffen», erklärt Thomas Kolb das Gestaltungskonzept. «Und dabei spielte Abstandsgrün eine wichtige Rolle.»
Wiese statt Rasen
Heute ist die gesamte Überbauung gegen die Strasse mit einer niedrigen Sockelmauer und einer dahinterliegenden Rotbuchenhecke abgegrenzt. Hinter der Hecke schauen Gräser und Blumen hervor: Die schmalen Rasenflächen wurden zu hoch wachsenden Blumenwiesen mit verschiedenen einheimischen Gras- und Blumenarten umgestaltet. Dies schuf zum einen optisch mehr Distanz zwischen den Gebäuden und der Strasse. «Distanz entsteht erst durch Struktur, wie sie eine hohe Wiese bietet, nicht mit flachem Rasen», so Thomas Kolb. Zum anderen sollte die Blumenwiese auch weniger Pflegeaufwand bedeuten. «Zwei bis drei Schnitte pro Jahr reichen aus. Dafür ist der Schnitt aufwändiger, weil man vielleicht zusätzliches Schneidegerät und ein bisschen mehr Wissen braucht.»
Für die BG Wiedikon aber fast der wichtigste Zweck des neu gestalteten Abstandsgrüns: die Schaffung von naturnahem Raum. «Dieser bietet nicht nur Insekten, Vögeln und anderen Tieren einen Lebensraum, sondern wirkt auch auf die Betrachter entspannend», erklärt Charlotte Tschumi. Deshalb entschloss man sich, auch gleich eine grössere Rasenfläche zwischen zwei Gebäuden neu als Blumenwiese zu gestalten. Und auf anderen, bisher kaum genutzten Flächen am Rand der Überbauung oder rund um die neuen Veloständer wächst die Wiese heute ebenfalls bis zu achtzig Zentimeter hoch.
Klare Strukturierung lädt zur Nutzung ein
Zwischen diesen hohen Blumenwiesen und den Liegenschaften führen neue, in einer Kiesfläche liegende Betonplattenwege zu den Hauseingängen. Die Bänder aus grossformatigen Platten ersetzen die Verbundsteinwege aus den 1980er-Jahren. Ein schmaler Kiesstreifen entlang der Hauswand ist mit unregelmässig angeordneten Inseln mit Hortensien, Gräsern und Farnen bepflanzt, die ebenfalls für eine lebendige Optik sorgen. «Insgesamt haben wir heute auf dem ganzen Gelände einiges mehr an Sträuchern als früher», sagt Charlotte Tschumi. Manche Sträucher standen auch schon vor den Sanierungsarbeiten auf dem Grundstück und fanden eine neue Verwendung, wurden beispielsweise als «Abstandsgrün, das wirklich abgrenzt» eingesetzt, wie es Landschaftsarchitekt Thomas Kolb beschreibt. Sie sind nun so platziert, dass sie die Sitzplätze der Erdgeschosswohnungen von den Spielwiesen trennen. «Auch das kann als Abstandsgrün im positiven Sinne bezeichnet werden. Grün, das sinnvoll Abstand schafft und unterschiedliche Bereiche auszeichnet», erklärt Thomas Kolb.
Die verschiedenen Aussenraumzonen in der Überbauung der BG Wiedikon sind dank diesen Grünelementen heute klar ersichtlich. Die naturnahen Räume erkennt man an der hoch aufwachsenden Blumenwiese. Die Sitzplätze im Erdgeschoss sind durch frei wachsende Blütengehölze von den Spielwiesen abgetrennt, die Hauszugänge mit Plattenwegen gekennzeichnet, Aufenthaltszonen dank Kiesflächen, Sitzgruppen und Grillstellen erkennbar. Eine solche Strukturierung mit natürlichen Mitteln animiere Bewohnende eher zu einer Nutzung als eine riesige Rasenfläche, auf der man sich verliere, so Thomas Kolb.
«Wir fühlen uns wohler»
Rund eine halbe Million Franken hat die BG Wiedikon in die Aufwertung des Aussenraums investiert. Die Kosten habe man zu Beginn etwas unterschätzt, sagt Präsidentin Charlotte Tschumi. «Wir haben dann auch auf ein paar Sachen verzichtet, zum Beispiel weniger Spielgeräte angeschafft. So oder so sollen Kinder auch Freiräume haben, die sie kreativ füllen können. Und mit der naturnahen Gestaltung haben sie dazu nun viel mehr Möglichkeiten.» Charlotte Tschumi ist auch zwei Jahre nach der Fertigstellung noch immer überzeugt vom Resultat. Einzig die Kiesflächen würde sie heute zum Teil anders gestalten. «Die Katzen im Quartier haben den Kies rasch als Toilette entdeckt.»
Ein Kritikpunkt, der auch von einem Bewohner vor Ort eingebracht wird. Sonst aber gefalle ihm und seiner Familie die Neugestaltung. «Wir haben es nicht so mit Schickimicki. Wir fühlen uns wohler, wenn es ein bisschen natürlich ist.» Hier sind jedoch nicht ganz alle der gleichen Meinung. Als «schrecklich» bezeichnet eine ältere Bewohnerin das hoch gewachsene Gras auf Nachfrage. Und erzählt wenige Sätze später: «Gestern habe ich mir aber erlaubt, vor dem Haus ein paar ‹Margritli› für einen Blumenstrauss zu pflücken.» Etwas, was vor wenigen Jahren noch nicht möglich gewesen wäre.
Randflächen gewinnen an Bedeutung
Wie gehen andere Baugenossenschaften mit «Abstandsgrün» um? «Wir investieren bei bestehenden Bauten unsere Energie in die Nutzung und Gestaltung der grossen Flächen», sagt zum Beispiel Martin Schmidli, Geschäftsführer der Heimstätten-Genossenschaft Winterthur. «Bestehendes Abstandsgrün gestalten wir nur in Einzelfällen bewusst auf einen Zweck hin. Zum Beispiel an steilen Hängen, wo wir eher Büsche setzen, weil eine regelmässige Rasenpflege zu aufwändig wäre.»
Auch die Genossenschaft Solidus, Solidarisches Wohnen Region Winterthur, setzt zumindest bei einigen Gebäuden das Abstandsgrün bewusst ein. So pflanzte man bei einer Liegenschaft, bei der die EG-Wohnungen nahe der Strasse liegen, eine dichte Hecke als Sicht-
und Lärmschutz. «Ausserdem versuchen wir, punktuell der Natur Raum zu geben. Zum Beispiel mit einer Blumenwiese, die dann auch schön aussieht», so Geschäftsführer Fabrice Vuilleumier. Dies geschehe aber noch längst nicht auf allen möglichen Kleinflächen.
Auf naturnahen Raum setzt auch die Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Winterthur. «Jedoch im Rahmen von Sanierungs- oder Neubauprojekten», so Präsidentin Doris Sutter Gresia. «Vor zehn Jahren aber haben wir ein Aussenraumkonzept erarbeitet und wenden dieses nun konsequent an.» Dabei lege man Wert auf möglichst abwechslungsreich, vielseitig und naturnah gestaltete Aussenräume. «Und für Letzteres eignen sich kleine Randflächen besonders gut.»