Spielplätze zwischen Natur und Normen
Mehr Dreck
Naturbereiche auf Spielplätzen ermöglichen den Kindern wertvolle Erfahrungen. Aus fachlicher Sicht sind sie hilfreicher für ihre Entwicklung als normierte Spielgeräte. Die Umsetzung ist für Baugenossenschaften nicht einfach: Mehr Natur heisst auch mehr Aufwand. Doch dieser kann sich lohnen.
Von Michael Staub | Bilder: Matthias Jurt | August 2017
Wer den Spielplatz Langmatt in Kriens (LU) betritt, ist nicht nur von der Grösse der 2015 eröffneten Anlage beeindruckt, sondern auch von ihrer Vielfalt. Auf dem «Pumptrack» zischen Kinder und Teenager mit ihren Bikes und Kickboards vorbei. Daneben balancieren zwei Mädchen auf der Slackline, während eine Gruppe von fünf Kindern den grossen Seilpark erkundet. Im hintersten Teil des grossen Areals verstopfen einige Buben mit Wonne eine hölzerne Wasserrinne, daneben erklimmen Bruder und Schwester einen steilen Hügel. An seinem Fuss liegt ein grosser, schlammiger Weiher, dessen faustgrosse Steine gerade wieder einmal umgeschichtet werden.
Gemeinsam mit Nutzern geplant
Die Kinder sind zweifellos begeistert – doch wie sieht es mit dem Unterhalt aus? «Der bleibt recht überschaubar», meint Thomas Kost, Abteilungsleiter Freizeitdienste der Gemeinde
Kriens. Viele engagierte Mitglieder des Quartiervereins halten ein Auge auf die Anlage und sammeln täglich herumliegenden Abfall ein. Für die Gemeindearbeiter falle relativ wenig Arbeit an: «Wir müssen die Rasenflächen öfter mähen, also wie bei einem Sportplatz. Und ab und zu räumen wir die Wasserbecken frei und reinigen die Becken und Leitungen.»
Die Anlage in der Langmatt ist weit über die Gemeindegrenzen hinaus beliebt, einzelne Kitas aus der Region nehmen für einen Besuch halbstündige Anfahrten in Kauf. Das liegt auch an seiner Entwicklung. «Alle drei Bereiche des Spielplatzes haben wir mit verschiedenen Partizipationsverfahren gestaltet», sagt Thomas Kost. Beim Naturbereich stützte man sich zum Beispiel auf das Grundkonzept eines Landschaftsarchitekten. «Dieses haben wir gemeinsam mit Kindern und Familien besprochen und weiterentwickelt», erläutert Thomas Kost. «Die detaillierte Planung wurde dann an mehreren Familienbautagen von Eltern und Kindern umgesetzt.» Auch nach der Betriebsaufnahme kommt es zu Verbesserungen und Erweiterungen. So hat man 2016 zum Beispiel eine neue Slackline-Anlage errichtet. Die Gesundheitsförderungsorganisation Radix hat Kriens im Juni 2017 wegen der Anlage Langmatt als «Gesunde Gemeinde 2017» prämiert.
Warum Natur wichtig ist
Spielplätze haben aus entwicklungspsychologischer Sicht eine grosse Bedeutung. «Das Selbstwertgefühl eines Kindes baut sich über die Bewegung und die dabei empfundenen Emotionen auf. Über die positiven Erfahrungen entwickelt es ein Grundvertrauen in sich und die Welt», sagt Daniel Jucker. Er ist ausgebildeter Psychomotoriktherapeut und Sonderpädagoge und unterrichtet an der Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH). Seit Jahren propagiert Daniel Jucker «Spielräume» anstelle von Spielplätzen (die Ideensammlung ist bei www.tafalu.ch erhältlich). Dabei plädiert er für Vielfalt, Kreativität und Offenheit: «Kinder wollen selber gestalten, Spuren hinterlassen und immer wieder Neues ausprobieren. Normierte Spielgeräte verlieren aber bald ihren herausfordernden Charakter.»
Als Alternative zum Schweizer Spielplatzstandard mit Sandkasten, Rutschbahn und Kletterturm schlägt Daniel Jucker zum Beispiel Asthaufen, nackte Erde, Kiesflächen oder Steine und abwechslungsreiches Gelände vor: «Das Schräge, Unebene und leicht Wilde kommt den Kindern durchaus entgegen.» Was viele Landschaftsarchitekten, Hauswarte oder Eltern als Chaos empfänden, sei wertvoll, so Daniel Jucker: «Natürliche Räume und Materialien erlauben die Wahrnehmung von verschiedenen Oberflächen. Das Gleichgewicht ist viel mehr gefragt, Muskeln und Gelenke müssen sich vielfältig anpassen. Die Natur verändert sich zudem ständig und ist sehr verschieden strukturiert. Das fordert ein Kind im positiven Sinn viel mehr heraus als eine normierte, immer gleiche Umgebung.» Als Vater dreier Kinder und Berater bei verschiedenen Spielraumprojekten kennt er allerdings auch das grösste Problem bei der Umsetzung: «Wer den Kindern so etwas bieten will, muss das Wilde und Chaotische ertragen können. Es geht bei solchen Naturerfahrungen nicht darum, was die Erwachsenen schön finden, sondern was die Kinder begeistert.»
Schwierige Umsetzung
Auf kommunalen Spielplätzen kann diese Spannung noch eher ausgehalten werden. In einer Wohnsiedlung wird es schon schwieriger. Nicht zu unterschätzen ist die ästhetische Wirkung von «wilden» Spielplätzen. «Wir wollen den Kindern durchaus etwas bieten. Doch unsere Mieterschaft besteht nicht nur aus Familien, und wir müssen auf alle Parteien etwas Rücksicht nehmen», sagt Esther Keiser. Sie leitet die Geschäftsstelle der Gewoba Zug. Das laute und lebendige Genossenschaftsleben inklusive Kindergeschrei werde akzeptiert, auch von älteren Mieterinnen und Mietern. «Aber ein Spielplatz muss am Abend auch einigermassen anständig aussehen», sagt Esther Keiser. Leider gebe es nur selten Eltern, die nach einem langen Spieltag noch rasch für Ordnung sorgten.
Neben optischen Aspekten geht es auch um Grundsätzliches: Was ist auf einem Spielplatz «natürlich», was ist künstlich? Bei der Allgemeinen Baugenossenschaft Luzern (ABL) setze man auf «Platz zum Spielen statt übermöblierter Spielplätze», sagt Jesús Turiño, Leiter Soziales und Genossenschaftskultur. Grossen Wert lege man auf die Durchmischung, damit ein Spielplatz zum Treffpunkt für verschiedenste Nutzergruppen werden könne. Je nach Siedlung und Situation nehme man aber weniger Bezug auf die Natur. «Grundsätzlich macht die Naturnähe mehr Sinn, wenn wirklich Natur in der Nähe ist. Spielplätze im urbanen Raum müssen nicht zwingend künstlich naturnah ausgestaltet sein», sagt Jesús Turiño. Nicht zuletzt muss man sich die Naturnähe auch leisten können. «Die Naturecken auf unseren Spielplätzen beschränken sich auf Bäume, Sträucher, Rasen- und Kiesflächen», sagt Markus Helfenstein, Präsident der Baugenossenschaft Matt. Denn Stein- oder Totholzhaufen sowie Wasserspiele seien meistens sehr unterhaltsintensiv. «Dazu kommen noch die sich ständig verschärfenden Sicherheitsvorschriften und als Folge davon grössere Haftungsrisiken. Das bremst natürlich den Ausbau solcher Angebote», erklärt Markus Helfenstein.
Der «Naschgarten» als Mittelweg
Aus Sicht der Verwaltungen und der Bauverantwortlichen sprechen also verschiedene praktische und finanzielle Überlegungen gegen «zu viel» Natur auf dem Spielplatz. Ein Mittelweg, um auch auf kleinen oder urbanen Spielplätzen die Natur stärker einzubeziehen, sind die sogenannten Naschgärten. Das Prinzip ist einfach: Für die Bepflanzung werden nur Bäume und Sträucher gewählt, deren Früchte oder Beeren essbar sind. Für Naschgärten kommen zahlreiche Pflanzen in Frage, darunter etwa Felsenbirnen, Apfelbeeren, Zierquitten, Mispeln, Schwarz- und Weissdorn, Kornelkirsche («Tierlibaum»), Sanddorn oder Holunder.
Bei verschiedenen Baugenossenschaften, etwa im Raum Zürich, sind solche Naschgärten seit einigen Jahren ein Thema. Auch die öffentliche Hand engagiert sich stark. Die Stadt Luzern etwa hat auf dem Spielplatz Schildweg im Maihof-Quartier 2016 einen grosszügigen Naschgarten angelegt. Und auch auf dem Krienser Langmatt-Spielplatz sollen die Kinder unbesorgt «schnouse» können. «Unsere Bäumchen und Sträucher sehen noch etwas unscheinbar aus», sagt Thomas Kost, «aber in einigen Jahren sind die Pflanzen gross genug.» Bei den Kletterhügeln werden die Kinder dann die Früchte von «Pro Specie Rara»-Pflanzen kosten können, und am Fuss der Rutschbahn werden Niederstamm-Obstbäume ihre ersten Äpfel und Birnen tragen.
Mitwirkung ist nicht immer einfach
Partizipationsverfahren für Spielplätze sind lohnenswert, benötigen aber viele Ressourcen. Je nach Grösse einer Genossenschaft gibt es deshalb unterschiedliche Haltungen. Die Baugenossenschaft Matt lässt ihre Anlagen meist von Landschaftsarchitekten planen und bringt eigene Erfahrungen ein. Eine direkte Mitwirkung von Mieterinnen und Mietern gibt es bisher selten. Bei der ABL wird je nach Spielplatz und Situation eine andere partizipative Herangehensweise gewählt, jedoch wird die Mieterschaft «grundsätzlich immer einbezogen». Die Gewoba Zug wiederum wollte vor einigen Jahren einen Spielplatz unter Einbezug der Kinder planen. «Das scheiterte letztlich an einzelnen Vorstandsmitgliedern, die meinten: «Dann redet jeder drein, und jeder will etwas anderes», sagt Esther Keiser. Silvia Capol von der Allgemeinen Wohnbaugenossenschaft Zug (AWZ) hat eine andere Erfahrung gemacht:
«Meiner Meinung nach fehlt es an Verständnis für die Kinder – aber nicht von Seiten der Verwaltung, sondern der Eltern.» Dies nehme die AWZ gerade in neueren Überbauungen wahr. Vor wenigen Jahren hätten noch junge Eltern die Initiative ergriffen, die eine möglichst natürliche Spielumgebung für die Kinder wünschten. Heute sei das anders. «Der Punkt Sicherheit hat eine überragende Bedeutung bekommen – leider!», erklärt Silvia Capol. Nicht selten würden sich besorgte Mütter über zu hohes Gras beklagen; es gebe Bienen und womöglich Zecken, das sei unverantwortlich. Silvia Capol hält deshalb das Informieren der Eltern über die elementare Wichtigkeit eines «bespielbaren» Wohnumfelds für dringend nötig: «Damit Kinder die Welt im wahrsten Sinne des Wortes begreifen können und auch lernen, mit Gefahren umzugehen, am besten nicht nur mit einer Maus vor dem Bildschirm.»