Gemeinnütziger Wohnungsbau als Schlüssel zur Tessiner Wohnproblematik?

«Die grosse Wohnungsnot wird erst noch kommen»

Im Tessin ist bedarfsgerechter Wohnraum Mangelware. Abhilfe schaffen könnten Baugenossenschaften. Das Modell setzt sich im Südkanton allerdings nur zäh durch. Monique Bosco-von Allmen von der Verbandssektion Cassi über strukturelle Herausforderungen, kleine Schritte und einige Neugründungen.

Interview: Liza Papazoglou | Bilder: Hermes Killer, zVg | 2024/07

Wohnen: Das Tessin kennen viele Deutsch­schweizer:innen als Feriendestination, wo man in Apartments mit Seesicht oder romantischen Rusticos übernachtet. Wie sieht die Wohnrealität der Tessiner:innen aus?

Monique Bosco-von Allmen: Es fehlt an adäquatem Wohnraum, obwohl es einen relativ hohen Leerstand gibt. In den Zentren sind Wohnungen oft nicht bezahlbar. In den peripheren Bergtälern sind Renovationen teuer, so zerfallen viele Wohnungen oder aber sie werden zu hohen Preisen als Feriendomizile an Deutsch­schweizer:innen und Deutsche verkauft. Zwar haben institutionelle Investorinnen in den letzten Jahren in Städten und Agglomerationen viele Liegenschaften gebaut, aber völlig an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei. Vor allem für Familien ist es sehr schwierig, passenden und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Und die Jungen ziehen weg, weil sie hier wenig verdienen und sich weder eine Wohnung noch eine Familie leisten können. Es erstaunt daher nicht, dass das Tessin die tiefste Geburtenrate im Land hat.

Wo drückt der Schuh besonders stark?

Wir haben schweizweit einen der höchsten Anteile an Haushalten, deren Wohnkosten mehr als ein Drittel ihres Bruttoeinkommens ausmachen. Das Tessin ist zudem der am schnellsten alternde Kanton. Passende Wohnungen für ältere Menschen fehlen aber, viele bleiben in viel zu grossen Wohnungen und Häusern. Man spricht nur über Altersheime und nicht darüber, was man machen könnte, damit Leute vernünftig zuhause bleiben können. Es gibt private Anbieter, die sehr aktiv auf dem Altersmarkt sind, doch vorwiegend im Luxussegment. Insgesamt haben wir ein grosses strukturelles Problem, das sich immer mehr zuspitzt. Bis jetzt unternimmt aber fast niemand etwas dagegen.

Woran liegt das?

Einerseits fehlen nutzbare Daten zur Situation noch weitgehend, es gibt keine echte Transparenz. Anderseits spielt sicher auch eine Rolle, dass der Kanton und einige Gemeinden Familien und Jugendlichen sogenannte Subjekthilfe ausrichten, sie bezahlen ihnen also einen Teil der Miete. Das Wohnproblem scheint damit gelöst. Das strukturelle Problem aber bleibt bestehen. Bis jetzt beklagt sich niemand, es gibt kaum Druck von unten. Langfristig wird die Mittelschicht aber immer mehr in Bedrängnis geraten. Dieses System wird weder funktionieren noch bezahlbar sein. Die grosse Wohnungsnot haben wir hier noch nicht – ich bin aber überzeugt, dass sie in naher Zukunft kommen wird. Nur fehlt das Bewusstsein dafür.

Monique Bosco-von Allmen ist Architektin ETHZ/SIA. Seit Frühjahr 2017 ist sie Präsidentin der Cassi (Cooperative d’abitazione Sezione Svizzera italiana), der wiederbelebten Tessiner Sektion des Verbands Wohnbaugenossenschaften Schweiz. Ihre Tätigkeit als selbständige Architektin nahm sie 1998 in Mailand auf, seit 2012 lebt und wirkt sie in Lugano.

Ist dies politisch kein Thema?

Nein, leider noch nicht. Die meisten Parteien interessieren sich kaum für die Wohnfrage. Offenbar versteht man hier nicht, dass es sinnvoll wäre, durch Genossenschaften bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, weil davon sowohl die Mieter:innen als auch die Steuerzahlenden pro­fitieren. Entsprechend fehlen auf allen Ebenen wohnpolitische Massnahmen. Instrumente wie etwa Vorkaufsrechte oder definierte Anteile für den gemeinnützigen Wohnungsbau gibt es im Tessin meines Wissens nirgends. Sie sind auch kein Thema im Parlament oder beim Baudepartement.

2015 hatte der Kanton aber einen Wohnungsplan lanciert. Er sah vor, dass ein Kompetenzzentrum aufgebaut und der gemeinnützige Wohnungsbau gestärkt werden ­sollen. Was hat sich seither getan?

Das Kompetenzzentrum konnte nicht realisiert werden, weil der Kanton verschuldet ist. Er hat aber immerhin von der Hochschule Supsi Daten über den Wohnungsmarkt erheben lassen. Diese wurden Ende 2022 publiziert und liefern erste Anhaltspunkte. Eine breite öffentliche Diskussion über die Ergebnisse fand allerdings nicht statt. Ich hoffe nun, dass die Beobachtung des Wohnungsmarkts fortgeführt wird. Wünschenswert wären dabei detailliertere Daten, die Auskunft über die regionale Wohnraumversorgung nach Zielgruppen und Leistbarkeit liefern und so ein verlässliches Monitoring ermöglichen.

Welche Rolle spielt der gemeinnützige Wohnungsbau im Tessin?

Eine verschwindend kleine. Es gibt eine grosse gemeinnützige AG, die Alloggi Ticino mit 1300 Wohneinheiten, sowie aktuell 17 Genossenschaften. Zusammen haben diese nicht einmal 800 Wohnungen – das entspricht gemessen am Gesamtwohnungsbestand weniger als einem halben Prozent. Die meisten dieser Genos­senschaften wurden in den 1940er- und 1950er-Jahren von Angestellten der Bundesbetriebe gegründet und haben seither nicht mehr viel gemacht. Sie werden meist von älteren Leuten verwaltet, oft weiss man nicht, wie man sich weiterentwickeln und erneuern soll. Die Genossen­schaf­ter:innen ha­ben jahrzehntelang von sehr günstigen Mieten profitiert, tragen aber nichts dazu bei, den gemeinnützigen Woh­nungsbau bekannter zu machen und zu fördern. Die meis­ten dieser Genossenschaften waren bisher nicht bei der Cassi, der Tessiner Sektion des Verbands. Deshalb freut es mich, dass wir nun drei von ihnen als neue Mitglieder gewinnen konnten.


«Bei vielen Haushalten hier machen die Wohn­kosten mehr als ein Drittel des Bruttoeinkommens aus.»


Die Tessiner Verbandssektion Cassi war lange inaktiv und wurde 2017 wiederbelebt. Als Präsidentin setzen Sie sich seither für das Genossenschaftsmodell ein: Sie haben diverse Infoveranstaltungen organisiert, gehen an Schulen und in die Medien, sensibilisieren Gemeinden und Politik. Und Sie haben das diesjährige Regionalforum des Verbands ins Tessin geholt. Welche Erfahrungen machen Sie?

Es braucht sehr viel Zeit und Geduld, zumal die Cassi nur über begrenzte Ressourcen verfügt – mit mir in einem kleinen Pensum und einem beratenden dreiköpfigen Komitee. Trotz all unserer Informationsoffensiven hat die breite Bevölkerung hier noch nicht gemerkt, dass gemeinnütziger Wohnungsbau nötig ist. Kaum jemand kennt den Unterschied zwischen genossenschaftlichem und sozialem Wohnungsbau. Auch über Baurechte weiss man nicht viel, und kommen sie doch einmal zur Anwendung, sind sie für gemeinnützige Projekte falsch aufgesetzt. Es braucht also weiterhin grosse Anstrengungen, um das Modell hier zu verankern. Doch gibt es auch Lichtblicke.

Welche?

Sehr erfreulich ist vor allem, dass in den letzten Jahren einige Genossenschaften gegründet wurden. Und dass man die Cassi mittlerweile kennt. Viele Leute und immer häufiger auch Ge­meinden kommen mit Anfragen auf mich zu. Mit unserem Newsletter erreichen wir über 900 Adressat:innen. Auch bei den Medien ist das Thema angekommen. Einige Journa­lis­t:innen haben verstanden, dass es neben Miete und Eigentum einen dritten Weg im Wohnungsbau gibt, immer wieder erscheinen Berichte in Zeitungen, Radio und Fernsehen. Damit bin ich sehr zufrieden. Ärgerlich sind hingegen Patzer wie kürzlich bei «20Minuten». Das Gratisblatt berichtete im Juni über die Gründung der Genossenschaft Radice in Locarno, mit dem Titel: «Jetzt kommt eine Kommune ins Tessin». Solche Schlagzeilen bedienen Klischees und werfen unsere Aufbauarbeit zurück.

Zu den Erfolgen der Cassi zählen die erwähnten Neugründungen von Genossenschaften. So stehen aktuell Lambertenghi in Lugano, Cam’on! im Mendrisiotto und Radice in Locarno in den Startlöchern. Auf welche Resonanz stossen sie?

Sie sind vielversprechend und bieten eine gros­se Chance. Um Wirksamkeit in der Öffentlichkeit zu entfalten, braucht es aber umgesetz­te Projekte, die überzeugen und regional gut verankert sind. Hinter Cam’on! und Radice ste­hen Tessiner:innen; wenn man ihre Erfolgsgeschichten erzählen und anhand ihrer Häuser das Genossenschaftsmodell greifbar machen kann, bildet das Vertrauen und ermutigt weitere Interessierte. Mit konkreten Projekten lässt sich auch den Behörden einfacher aufzeigen, welche Mehrwerte durch Genossenschaften entstehen, etwa durch gemeinschaftliche Räume und soziales Miteinander. Cam’on! sucht schon länger nach Liegenschaften, bis jetzt war leider jede Kaufoption zu teuer. Radice wurde erst gerade gegründet, ist aber bestens vernetzt in der Architekturszene und sehr aktiv im Locarnese. Diese Leute entfalten eine grosse Energie, und ich hoffe fest, dass sie sehr bald Projekte verwirklichen können!

Wäre es auch eine Option, dass Deutschschweizer Genossenschaften im Tessin ­bauen?

Wenn sie selbst Wohnüberbauungen erstellen würden, wäre das vielleicht nicht die beste Lösung, weil Leute aus dem Tessin dann vielleicht das Gefühl hätten, diese Projekte entsprächen nicht ihrer Kultur. Deutschschweizer Genossenschaften können aber zum Beispiel Partnermitglied einer Tessiner Genossenschaft werden und ihr mit Kapital unter die Arme greifen. Auch ein Austausch von Know-how ist sicherlich sehr willkommen.

Wo möchte die Cassi ihr Engagement noch verstärken?

Wir müssen noch stärker die Vorteile des Genossenschaftsmodells kommunizieren – und zwar nicht nur die sozialen, sondern vor allem die ökonomischen. Günstige Mieten entlasten nicht nur die Bewohner:innen, sondern direkt und indirekt auch die Gemeinden. Das muss man ihnen klarmachen. Und wir müssen vermitteln, dass von Genossenschaften alle profitieren, Junge, Familien und alte Menschen. Auch das Problem der Grenzgänger:innen könnte man angehen. Jeden Tag pendeln mehr als 80 000 Menschen aus Italien ins Tessin. Das ist unsinnig und verstopft die Strassen. Würden diese Menschen hingegen im Tessin leben, würde nicht nur der Verkehr entlastet, sie würden auch hier ihre Steuern bezahlen und ihre Kinder zur Schule schicken. Dafür bräuchte es ebenfalls mehr be­zahlbare Wohnungen.

Sehen Sie weitere Potenziale?

Die Baubranche könnte aktiv werden, mit ähnlichen Modellen wie die Firma Halter. Diese entwickelt mit ihrer Genossenschaft «Wir sind Stadtgarten» Projekte und verkauft diese dann an eine Genossenschaft, die sie für das Projekt neu gründet. Dieses Modell ist in der Deutschschweiz zwar umstritten. Es bietet aber den Vorteil, dass jemand das Risiko bis zur Baubewilligung übernimmt. Das Anfangsrisiko ist bei Bauprojekten sehr hoch und kann sich über Jahre hinziehen, manche Projekte scheitern in dieser Phase. Für Tessiner Genossenschaften könnte ein Modell, bei dem sie erst nach der Baubewilligung die Verantwortung übernehmen müssen, eine valable Option sein. Ich hoffe, das Regionalforum trägt dazu bei, auch solche Ideen bekannter zu machen.