«Rohbau schreckt ­Kleingewerbe oft ab»

Viele Wohnbaugenossenschaften wollen mit Gewerbe ihre ­Siedlungen beleben und die Nahversorgung stärken. Was gilt es bei Mieten, Ausstattung und Mietersuche zu beachten? ­Vermarktungsprofis Iris Vollenweider und Thomas Gablinger geben Tipps und erklären, wie man auch an weniger zentralen Lagen erfolgreich Gewerbe ansiedelt.

Interview: Thomas Bürgisser | Bilder: zVg, Wohnen | 2025/01

Iris Vollenweider, Sie entwickeln seit über dreissig Jahren Gewerbekonzepte, auch für Wohnbaugenossenschaften. Brauchen diese wirklich Gewerbeflächen?

Iris Vollenweider: Je nach Bauvorschriften haben sie gar keine Wahl. Die Stadt Zürich beispielsweise hat in den letzten zwei Revisionen der Bau- und Zonenordnung die gewerbliche Erdgeschossnutzung stark forciert. Das Ziel ist eine Stadt der kurzen Wege mit Arbeitsplätzen und Einkaufsangeboten im Quartier. Bestehen keine Vorschriften, sollte sich eine Genossenschaft zuerst überlegen, was sie mit Gewerbe bezwecken will. Aus meiner Sicht ist es aber heute sowieso nicht mehr zeitgemäss, ohne Gewerbe zu denken. Denn Genossenschaften haben auch städtebaulich eine Verantwortung. Gleich­zeitig ist Gewerbe ein Fenster zur Welt, über das man sich nach aussen öffnet.

Wie schwierig ist es, passende Ge­wer­bebetriebe zu finden? Sie haben den direkten Vergleich: Vor über zehn Jahren waren Sie in Zürich bei der Gewerbevermietung der Genossenschaft Kalkbreite beteiligt, aktuell unterstützen Sie beim Koch-Areal, das zusammen von den Genossenschaften ABZ und Kraftwerk1 sowie der Senn AG entwickelt wird.

Vollenweider: Bei einigen Branchen wurde es tatsächlich schwieriger, Gewerbemieterinnen zu finden. Ladenkonzepte etwa leiden unter dem Onlinehandel. Das heisst, man muss weiterdenken. Läden brauchen heute einen attraktiven Web­shop, Events vor Ort, eine Community über Social Media usw. Als Genossenschaft kann man vielleicht mit Werbung in der Genossenschafts-App unterstützen. Auch die Gastronomie hat zu kämpfen. Sie hat sich nach der Corona-Krise noch nicht wieder erholt, die Margen sind geschrumpft und es gibt kaum noch Kredite für Mieterausbauten. Beim Koch-Areal spüren wir zudem auch, dass es weniger gut mit dem öffentlichen Verkehr erschlossen ist als die Kalkbreite. Entspre­chend beschränken wir uns bei der Voll­gastronomie auf nur ein Angebot und kon­zentrieren uns im Hinblick auf die vielen Arbeitsplätze im Quartier mit weiteren Gastroformaten vor allem auf die Tagesverpflegung.
Thomas Gablinger: Die erfolgreiche Gewerbevermarktung beginnt bei der Analyse: Was will man haben, was gibt es bereits, welches Publikum ist vor Ort? Das sollte man so früh wie möglich machen, am besten bereits bei der Konzeptio­nie­rung einer Überbauung. So hat man einerseits mehr Vorlauf für die Suche und kann anderseits Bedürfnisse bei der Planung oder dem Bau direkt berücksichtigen.

Wie weit sollten Genossenschaften beim Ausbau schon gehen, wenn sie noch keine Gewerbemieter haben?

Gablinger: Grössere Räume belässt man besser im Rohbau. Kleines Gewerbe hingegen wird vom Rohbau oft abgeschreckt. Wobei ich auch hier empfehle, zuzuwarten, das Geld für den Ausbau aber bereitzulegen, um Gewerbebetrieben bei Bedarf unter die Arme greifen zu können. Auch bei der Grundstruktur sollte man trotz Voranalyse möglichst flexibel bleiben, um reagieren zu können, wenn die Nachfrage vom Geplanten abweicht.

Wie stark soll eine Genossenschaft dem Gewerbe finanziell unter die Arme greifen?

Vollenweider: Gesetzlich gibt es hier keine Einschränkungen. Natürlich dürfen Wohnungssubventionen oder Gelder aus dem Fonds de Roulement nicht für das Gewerbe eingesetzt werden. Aber dass ein Ausbau zu Beginn über die allgemeinen Baukosten läuft oder dass eine Genossenschaft dies aus ihren Reserven finanziert, ist absolut möglich. Und aus meiner Sicht auch legitim. Schliesslich kommt es auch den Bewohnenden zu Gute, wenn sie im Quartier einkaufen können oder Kitaplätze haben.
Gablinger: Man kann die Ausbaukosten aber auch vorfinanzieren und gegebenenfalls auf die Miete draufschlagen. Gerade bei Kitas, Läden oder der Gastronomie hilft oft auch schon eine Staffelmiete, um die Anfangszeit zu überbrücken. Ein halbes Jahr reicht aber nicht, um rentabel zu werden. Man sollte schon über fünf bis zehn Jahre kalkulieren. Ich selber bin zudem ein Fan der Umsatzmiete. Denn neben der Anfangsunterstützung ergibt sich damit oft auch eine Umlagerung unter dem Gewerbe, so dass umsatzstärkere Konzepte umsatzschwächere mittragen.

Welches dieser Instrumente funk­tioniert am besten?

Gablinger: Jenes, das individuell passt. Bei der Vermarktung von Gewerbe muss man in erster Linie flexibel bleiben und gut zuhören. Ganz oft sind am Schluss auch sogenannt weiche Faktoren entscheidend. Wir konnten auch schon ein Gewerbe gewinnen, weil wir im Gegensatz zu anderen eine gewünschte Beschriftung ermöglicht haben.

Pauschallösungen gibt es also keine?

Vollenweider: Wenn Probleme bei der Vermietung auftreten, liegt das meist an der Lage. Wobei es dann einfach eine andere Herangehensweise braucht. Wir hatten diesen Fall beim Neubau des Quartierzentrums Friesenberg der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ); eigent­lich zu nah am Stadtzentrum für ein eigenständiges Zentrum, und doch zu weit weg für Alltagseinkäufe von Aussen­stehenden. Mit einem Mix aus vielen kleinen Einheiten ist es uns trotzdem gelungen, einen spannenden, anziehenden Ort zu gestalten. Allgemein empfehle ich, eher kleinräumig zu denken. Gleichzeitig hat uns beim Quartierzentrum natürlich geholfen, dass bereits ein grosser Detailhändler vor Ort war.

Zu den Personen

Iris Vollenweider war bis 2018 Leiterin Projektentwicklung und Vermarktung bei der Fischer AG. Heute berät sie bei Konzeptionen und Realisierungen. Sie ist zudem Stiftungsrätin beim Solidaritätsfonds von Wohnbaugenossenschaften Schweiz. Thomas Gablinger arbeitet seit Mitte 2022 bei der Fischer AG, heute als Leiter Vermarktung. Das Unternehmen unterstützt Eigentümer:innen bei der Projektentwicklung sowie Vermarktung und Bewirtschaftung von Immobilien. 

Nach der gewünschten Bäckerei hat die FGZ aber lange vergeblich gesucht. Heute betreiben Freiwillige aus dem Quartier mit einem Verein einen Bäckereiladen mit Broten und Produkten von Externen. Die FGZ stellt gemäss Vereinswebsite das ­Lokal mietfrei zur Verfügung, finanzierte den Innenausbau und half dem Verein mit einem zinslosen Darlehen in der Startphase. Eine sinnvolle Sache?

Vollenweider: Wenn eine Genossenschaft ein Gewerbe für einen bestimmten Zweck anstrebt, darf sie durchaus kreativ werden und das wie erwähnt auch mitfinanzieren. Vorsichtig bin ich eher mit dem Einplanen von Freiwilligen, auch wenn es in diesem Fall zu funktionieren scheint, was natürlich toll ist. Aber grundsätzlich ist es schwierig, Gewerbe-Know-how und Kontinuität auf Freiwilligenbasis sicherzustellen. Ausserdem gibt es meist genügend andere Genossenschaftsprojekte, bei denen man froh ist um Mitarbeit. Und auch genügend Gemeinschaftsräume, die bespielt werden wollen.

Viel Kleingewerbe für einen spannenden Mix, vielleicht ein grosser Detailhändler, und fertig ist das ­Zentrum, das Publikum anlockt. Das klingt sehr einfach.

Gablinger: Es gibt auch grössere Herausforderungen. Ich bin zurzeit an der Vermarktung des Glasi-Quartiers in Bülach. Dort gibt es bereits ein eingespieltes Zentrum nicht weit vom Quartier entfernt. Es fehlt zudem eine Passerelle zum eigentlich nahen Bahnhof. Keine idealen Voraussetzungen für Gewerbe, das auf Frequenzen angewiesen ist. Hier ist es dann umso wichtiger, dass man Gewerbe direkt anfragt, Beziehungen hat und kreativ bleibt. Inzwischen sind wir auf gutem Weg, mit vielen kleineren Nutzungen. Was uns noch fehlt ist ein grösseres Gas­troangebot ergänzend zur Mittagsver­pflegung im öffentlichen Restaurant im Tertianum.

Wie wichtig ist die Gastronomie für das Quartierleben?

Gablinger: Schon sehr wichtig. Aber es gibt eben viele verschiedene Gastronomiekonzepte. Oft geht es einfach darum, das richtige zu finden. Für den Westhof der Wogeno in Zürich zum Beispiel konnten wir einen Kaffeebohnenproduzenten gewinnen, der vor Ort seine Büros hat, Kaffee röstet und einen Verkaufsladen betreibt. Und dort kann man auch Kaffee trinken. Das alles natürlich passend zur Wogeno mit einem hohen Nachhaltigkeitsstandard. Auch das ist wichtig, dass das Gewerbe zur Genossenschaft passt.

Ab wann muss man von seinen ­Wünschen abrücken?

Gablinger: Klar muss man sich irgendwann fragen, ob die eigenen Vorstellungen realistisch sind. Aber auch, wie viel Wert einem diese sind. Aber Achtung: Immer zuerst einen realistischen Businessplan verlangen. Ansonsten finanziert man Gewerbe mit, das nie selbsttragend sein wird.
Vollenweider: Sicher nicht sinnvoll ist, wenn man zu lange zu viele Leerstände hat. Dann muss man auch einmal einen Kompromiss eingehen und vielleicht ein Beautystudio anstelle eines Detailhändlers akzeptieren. Das ist sonst auch dem bereits vorhandenen Gewerbe gegenüber nicht fair. Und es schadet dem Ruf eines Quartiers, auch beim Publikum. Gleichzeitig plädiere ich dafür, kleinere Leerstände auch einmal auszuhalten und nicht panisch mit dem erstbesten Gewerbe zu belegen.

Wie akquiriert man am besten? ­Eignen sich zum Beispiel die sozialen Medien?

Gablinger: Soziale Medien sind selektiv eingesetzt sinnvoll, genauso wie beispielsweise Projektwebsites, die bei grösseren Projekten bereits seit längerem zum Standardrepertoire gehören. Über die Direktansprache potenzieller Mieter hat man aber viel weniger Streuverluste und erhält erst noch wertvolles Feedback, das man ins Angebot einfliessen lassen kann. Auch bewährt sich weiterhin das altmodische Inserieren über Immobilienportale.

Ab wann ist externe Unterstützung bei der Vermarktung sinnvoll?

Gablinger: Immer, wenn das Gewerbe-Know-how intern nicht vorhanden ist. Und dann am besten schon in der Konzeptphase. Denn wie eingangs erwähnt: Je früher man das Gewerbe mitdenkt, desto einfacher gehts.
Vollenweider: Es braucht dabei auch nicht immer eine Begleitung von Anfang bis zum Schluss. Manchmal hilft es bereits, wenn jemand Externes die Pläne einmal anschaut und kritisch beurteilt. Und die Fischer AG bietet auch Schulungen von Teams an, damit man das Gewerbe-Know-how mit Blick auf die Zukunft intern aufbauen kann.