Wie schafft die Baubranche die Wende von der CO₂- und Ressourcenschleuder in die Zirkularität?

«Zirkuläres Bauen und Bestellen soll bis 2033 zum neuen Normal werden»

Kreislauffähiges Bauen wird immer wichtiger. Seit längerem schon befasst sich Marloes Fischer mit dem Thema, unter anderem beim Materialpass Madaster Schweiz. Nun hat sie die neue Koordinationsplattform C33 mitgegründet. Weshalb es diese braucht und was die Schweiz beim zirkulären Bauen noch besser machen könnte, sagt sie im Interview.

Interview: Liza Papazoglou | Bilder: Immobilien Basel Stadt, zVg | 2024/04

Wohnen: Wo steht heute der Schweizer ­Wohnungsbau in Sachen Kreislauffähigkeit auf einer Skala von 1 bis 10?

Marloes Fischer: Insgesamt wohl bei einer 4. Es kommt darauf an, was genau man anschaut. Oft realisiert man nicht, was alles schon getan wird. Gerade bei Baugenossenschaften sind eine lange Lebensdauer und hochwertiges Bauen Standard. In der Schweiz wird insgesamt sehr hochwertig gebaut. Was vor vierzig Jahren erstellt wurde, ist in der Substanz meist immer noch in gutem Zustand. Im Vergleich zu anderen Ländern stehen wir diesbezüglich ausgezeichnet da. Schaut man sich allerdings an, wie viele Gebäude trotz guter Substanz abgerissen werden, sieht das Bild schlechter aus. Ebenso bei der CO₂-Bilanz und dem Verbrauch von transportiertem Material. Und auch das Wissen darüber, was Kreislaufwirtschaft ist, ist noch relativ beschränkt. Da würde ich vielleicht eine 2 geben. Allerdings hat sich in den letzten fünf Jahren viel getan. Kannten damals viele das Thema gar nicht, kann man heute kaum an eine Konferenz gehen, wo es nicht behandelt wird.

Die Zahlen zum Schweizer Bausektor sind ernüchternd. Er verbraucht die grössten Mengen an Rohstoffen, verursacht 85 Prozent des Abfalls und ist für einen Viertel der Treibhausgase verantwortlich. Das Bauen spielt also eine zentrale Rolle bei der CO₂-Bilanz und dem Ressourcenverbrauch. Handeln ist dringlich. Ist das den Leuten bewusst?

Es steht ausser Frage, dass wir im Bausektor den CO₂-Ausstoss reduzieren und auch den Ma­terialeinsatz senken müssen, weil Ressourcen knapp werden. Die Verfügbarkeit von lokalem Holz und Kies etwa kann die Bedürfnisse längerfristig nicht abdecken. Aber das Bewusstsein dafür ist noch mangelhaft. Es fehlt an guten Daten und an Wissen um Fakten und Zusammenhänge, etwa zwischen der Emissionsproblematik und dem kreislauffähigen Bauen.

Damit wir vom Gleichen reden: Was verstehen Sie unter Kreislaufwirtschaft?

Ich habe da ein sehr breites Verständnis. In einer Kreislaufwirtschaft werden Ressourcen so lange wie möglich und auf dem höchstmöglichen Wert eingesetzt. Ressourcen sind Rohstoffe und Materialien, aber auch Menschen, Wasser, Energie, Grünflächen, Biodiversität, Kultur … Das alles gehört zur Kreislaufwirtschaft und muss integriert werden. Das übergeordnete Ziel ist eine transparente, gerechte und widerstandsfähige Gesellschaft. Entscheide, die man heute zur Zirkularität trifft, müssen eine breite Perspektive einnehmen und Konsequen­zen auf andere Aspekte berücksichtigen. Ein Beispiel: Natürlich ist es gut, wenn man lokales Holz verwendet. Aber man muss schauen, welche Folgen das hat, etwa ob längerfristig Agrar- oder Bau­- zu Forstland umgewandelt werden müsste. Es gilt also, das Ganze im Auge zu behalten.

Und was heisst das bezüglich kreislauf­fähigem oder zirkulärem Bauen?

Gebäude müssen so geplant, gebaut und genutzt werden, dass Materialien und Bauteile möglichst lange im Einsatz sind, möglichst wenig Abfall sowie Emissionen verursachen und keine Schadstoffe beinhalten. Sie müssen also von Anfang an so konzipiert werden, dass sie langlebig, sortenrein trennbar oder reparierbar sind oder als natürliche Materialien komplett abgebaut und in den biologischen Kreislauf zurückgeführt werden können. Wichtig ist auch das Prinzip des «Design for Disassembly», also einer Gestaltung, die den späteren Rückbau und die Weiternutzung bereits mitdenkt. Kreislaufbauen orientiert sich dabei an einer Kaskade von zehn «R-Begriffen» auf der «Re-Leiter», wobei an oberster Stelle immer die Reduktion steht, gefolgt von Re-Use bis zur letzten Stufe, dem Rezyklieren.

Marloes Fischer ist seit 2018 für Madaster Schweiz tätig, das den Gebäudemate­rialpass lanciert hat, unter anderem als Geschäftsleiterin und im Verwaltungsrat. 2018 gründete sie die Wissens- und Netzwerkplattform Circular Hub. Die Kommunikationswissenschaftlerin und Japanologin hat zudem die Koordinationsstelle für zirkuläres Bauen «Circular Con­struction Catalyst 2033» (C33) mitgegründet, die diesen Januar lanciert wurde.

Re-Use, die Wiederverwendung von Bau­teilen, geniesst aktuell viel Aufmerksamkeit und liefert attraktive Geschichten. Bilanziert man aber beim Aus- und Wiedereinbau zum Beispiel von Fassadenteilen oder Fenstern Aufwand und Ertrag, kann das ernüchternd sein. Was sagen Sie dazu?

Das ist eine vielschichtige Diskussion. Unter anderem relativieren hier die Arbeitskosten für Suche, Transport, Lagerung usw. den «Ertrag». Eigentlich müsste man aber den Umwelt­kosten einen Preis geben und die finanziellen sowie die CO₂-Auswirkungen nebeneinandersetzen – das würde eine völlig andere Bilanz er­geben. Mittlerweile gibt es immerhin schon Unternehmen, die neben einem finanziellen Budget auch ein CO₂-Budget zur Verfügung haben. Das führt automatisch zu anderen Entscheiden und ist ein potenter Hebel.

Welche Entwicklungen beim zirkulären Bauen sind Ihnen besonders positiv ­aufgefallen?

Auf der Produktebene passiert unglaublich viel, es gibt unzählige Initiativen und Ak­teure. Beispielsweise werden immer mehr Isolationsmaterialien aus regenerativen Ressourcen wie Wolle oder Hanf angeboten, oder auch Dämmmaterial, das aus feinstem Rückbaumaterial gewonnen wird. Oder nehmen Sie das Duschsystem, das Abwasser nutzt zum Aufwärmen des nächsten Duschwassers. Es gäbe viele weitere Beispiele, und es haben sich auch schon erste Handelsfirmen ausschliesslich auf regenerative Materialien spezialisiert.

Und wie steht es um Bauwerke?

Auch da gibt es mittlerweile sehr interessante Projekte. Zum Beispiel die Wohnüberbauung Hobelwerk der Genossenschaft «Mehr als wohnen» in Winterthur. In Zürich hat die Universität mit einer Sporthalle eine Baute erstellt, die eigentlich alles umfasst, was man unter Zirkularität versteht: Sie ist unter anderem komplett demontabel, besteht aus lokalem Holz und kann zu 85 Prozent wiederverwendet werden. Beim Projekt Müllerstrasse wurde ein ehemalige Swisscom-Bürogebäude in Zürich saniert. Dabei hat man vieles, etwa Teile der Alufassade, wiederverwertet, zudem wurde Beton vor Ort rezykliert und feinere Bestandteile hat man als Dämmmaterial verwendet. Inte­res­sant ist auch das Projekt Hortus im Basler Allschwil. Der Holzbau erreicht sehr tiefe CO₂-Werte, und es wurden viele neue Produkte ent­wickelt. Andernorts hat man zum Beispiel Stroh­ballen, Lehm- oder Hanfziegel in tollen Wohn­projekten verbaut.

Solche Projekte sind vielversprechend. Nur: Es gibt erst wenige von ihnen. Welche Hürden stehen dem zirkulären Bauen im Weg?

Einerseits ganz praktische Aspekte wie Abklärungen, Sicherheitsprüfungen und Zertifizierungen für neue Produkte, die aufwändig und zeitraubend sind. Da braucht es viel Überzeugungsarbeit seitens Anbieter, aber auch Bauträgerinnen, die hier vorangehen möchten. Wo­ran es ebenfalls fehlt, sind klare Vorschriften; viele juristische Fragen, etwa zur Haftung, sind ungeklärt. Und es fehlt an Hilfestellungen. Es gibt nirgends eine zentrale Anlaufstelle, an die sich eine Bauträgerschaft richten kann, wenn sie ein kreislauffähiges Projekt realisieren möchte, aber keine Ahnung hat, wie sie das angehen soll.

Zirkuläres Bauen gilt als aufwändig und teuer. Wann lohnt es sich?

Lohnen tut es sich auf jeden Fall – bei einer langfristigen Perspektive. Schaut man den ganzen Lebenszyklus eines Gebäudes an, betragen die Kosten für die Planungs- und Bauphase nur zwanzig Prozent. Achtzig Prozent fallen in der Nutzungsphase inklusive Umbauten an. Es macht also durchaus Sinn, wenn man am Anfang ein bisschen mehr investiert. Plant und bestellt man konsequent zirkulär, müssen die Kosten im Übrigen nicht höher als bei einem herkömmlichen Bau liegen. So oder so: Die Klimaänderung findet statt. Überschwemmungen, Hagel, Schwerregenereignisse nehmen zu, in der Stadt ist die Lebbarkeit mit zunehmender Hitze nicht mehr gegeben. Wenn auch ­unsere Kinder noch in einer vergleichbaren Qualität leben sollen, müssen wir kreislauffähig bauen. Und zwar jetzt.


«Künftig muss für Gebäude der CO₂-Abdruck ausgewiesen werden.»


Wie fit sind die verschiedenen Akteure und Akteurinnen der Branche für die Anforderungen der ­Zirkularität?

Bei den Planer:innen ist ein grosses Umdenken gefragt. Die Weiterbildung von Ingenieurinnen und Architekten ist deshalb eminent wichtig. Da sind in den letzten paar Jahren auch diverse Angebote im Immobilien- und Planungsbereich entwickelt worden. Vorreiterinnen wie Barbara Buser vom Baubüro «In Situ» haben gross­artige Pionierarbeit geleistet und den Grundstein gelegt, auf dem nun auch grössere Investorinnen aufbauen. Auch diese trauen sich jetzt an das Thema heran. Es braucht aber noch viel mehr Ar­chi­tekt:in­nen und Pla­ne­r:innen, die ähnlich arbeiten können und ein umfassendes Verständnis von Kreislaufwirtschaft haben. Und es braucht vor allem auch Bauträgerschaften, die sich dem Thema stellen und konsequent kreislauffähige Projekte einfordern.

Baugenossenschaften mangelt es vielleicht nicht am guten Willen, sondern am Know-how, wenn sie ein zirkuläres Bau­vorhaben umsetzen wollen. Wo können sie ansetzen?

Sie müssen vor allem die nötige Bestellerkompetenz aufbauen. Es braucht eine klare Bestellung, die zwingend auch den Nachweis einfordert, was abgeliefert wird. Dafür sollte eine Genossenschaft neben den gewünschten Funk­tionalitäten – gesund wohnen, Räume für Austausch, gutes Innenraumklima usw. – erst einmal in einer Strategie festhalten, was Kreislaufwirtschaft für sie bedeutet. Die Ausschreibung muss dann verbindlich einfordern, was man will, zum Beispiel lokale Ressourcen, schadstofffreie Materialien und Transparenz zu deren Herkunft, einen bestimmten Anteil an regenerativen Materialien oder Wiederverwendbarkeit. Oder man gibt Kennwerte wie ein CO₂-Budget vor und lässt den Planenden Raum, um gute Lösungen zu finden. Je nach Fall ist es vielleicht zielführender, wenn nicht alles demontierbar sein muss, sondern ein durabler Hybridbau erstellt wird, der später aufgestockt werden kann. Ich würde auch empfehlen, digital mit BIM, also Bauwerksdatenmodel­lierung, zu planen. Dann werden Langlebig­keit und Reparierbarkeit umsetzbar und ein zirkuläres Facility Management sichergestellt.

Und wie beurteilen Sie die rechtlichen ­Rahmenbedingungen in der Schweiz?

Da bewegt sich etwas. Auch wenn im März der Ständerat leider bei der Revision des CO₂-Gesetzes verhindert hat, dass im Inland ein klares Ziel für den Absenkpfad definiert wird. Das Parlament hat dafür Änderungen im Umweltschutzgesetz und im Energiegesetz zugestimmt, welche die Kreislaufwirtschaft stärken sollen, indem auch bei Bauwerken Materialkreisläufe geschlossen und die Ressourceneffizienz verbessert werden. Der Bund kann dazu nötigenfalls zum Beispiel Anforderungen zur Verwendung umweltschonender Baustoffe, zu Rückbaubarkeit oder Wiederverwendung festlegen. Zudem hat das Stimmvolk letztes Jahr das neue Klima- und Innovationsgesetz (KIG) deutlich angenommen.

Was gibt dieses vor?

Das KIG dürfte 2025 in Kraft treten und verlangt klare Treibhausgasreduktionsziele im Gebäudebereich. Bund und Kantone müssen eine Vorreiterrolle bei eigenen sowie bei vor- und nachgelagerten Prozessen einnehmen. Das wird wichtige Impulse geben, auch für andere Investorinnen. Aus Europa kommt zudem die neue Berichterstattungspflicht im Nachhaltigkeitsbereich, die seit 2024 für grössere börsenkotierte Firmen gilt. Auch viele Schweizer Firmen werden sich an die «Corporate Sustainability Directive» halten und Rechenschaft über ihre Emissionen ablegen. Das bedeutet auch, dass künftig für Gebäude der CO₂-Abdruck ausgewiesen werden muss. Das erfordert eine Ökobilanzierung über den Lebenszyklus und eine Materialisierungseinschätzung.

Interessant sind auch lokale Beispiele. Die Stadt Basel etwa hat 2019 den Klimanotstand ausgerufen. Gebäude sollen bis 2037 treibhausfrei im Betrieb sein, für den Bau ­wurden Emissionsgrenzwerte definiert, und ab 2027 sollen auch für graue Emissionen Grenz­werte gelten.

Das zeigt, dass man vorwärts machen kann, wenn man will! Und dass hoch gesteckte Ziele wirken. In Basel wird trotz strenger Vorgaben immer noch gebaut, und zwar sehr innovativ. Zudem wirkt der Wettbewerb zwischen den Städten: Nachdem Zürich sich das Ziel Netto-null bis 2040 gesetzt hatte, kam Basel mit dem Ziel 2037. Diese Konkurrenz bringt Dynamik und wird weitere Fortschritte beflügeln.

Sie engagieren sich in verschiedenen Organisationen zum zirkulären Bauen. Im Dezember haben sie nun auch die Schweizer Koordina­tionsstelle für zirkuläres Bauen (C33) mitgegründet. Weshalb braucht es diesen Verein?

Weil es bisher keine Organisation gibt, die die ganze Wertschöpfungskette im Bausektor betrachtet. Dieser ist geprägt durch lange Prozesse und eine riesige Menge von Akteuren, Schnitt­stellen und Kompetenzen. Deshalb gibt es so viel unterschiedliches Wissen. Dennoch braucht es für alle ein gemeinsames Verständnis, wohin es gehen soll. Darum haben verschiedene Akteure, darunter der Dachverband der Schweizer Bauwirtschaft Bauenschweiz, das Kompetenzzentrum für Baustandards CRB, Hochschulen und weitere Organisationen den Aufbau von C33 begleitet. C33 soll zur zentralen Anlaufstelle für zirkuläres Bauen in der Schweiz werden, die alle Akteure vernetzt und Wissen koordiniert. C33 steht für «Circular Construction Catalyst». Wir verstehen uns als Katalysator mit dem Ziel, dass zirkuläres Bauen und Bestellen bis 2033 zum «neuen Normal» wird. Dafür gilt es, die Umsetzung zu beschleunigen.

Wie will C33 das erreichen?

Wir möchten das vorhandene Wissen strukturieren und anonymisiert dem Markt anbieten, so dass alle Interessierten mit Erkenntnissen aus anderen Projekten arbeiten können. Angedacht ist unter anderem eine digitale Lösung, über die Fragen beantworten werden, entweder über KI oder eine Fachperson. Wir möchten ausserdem ein Fachgremium bilden, das ein Zielbild für zirkuläres Bauwesen formuliert und publiziert. Dann gibt es Arbeitsfelder in den ­Bereichen Markt, Normen und Regulierungen, Messbarkeit und Datentransparenz sowie Sensibilisierung und Wissensaufbau. Partner aus Wissenschaft oder Wirtschaft sollen dazu konkrete Projekte etwa zur Beschaffung, Planung oder Realisierung durchführen. C33 übernimmt die Koordination und Kommunikation.

Wo steht das zirkuläre Bauen in zehn Jahren?

2034 können wir unsere Koordinationsstelle auf­lösen, weil es sie nicht mehr braucht. Dann ist die kreislauffähige Bestellung eine Selbstverständlichkeit. Private wie öffentliche Bauherren setzen zirkuläres Bauen um, denn ihre Dienstleister haben das nötige Fachwissen.

Ist das ein Wunsch oder eine Prognose?

Eine Prognose. Der Druck von vielen Seiten – gesetzgeberisch, politisch, aus der EU –, ist gross. Es gibt eigentlich keine Alternative. Wollen wir das 1,5-Grad-Maximalziel bei der Erderwärmung einhalten, welches das Pariser Klimaabkommen vorgibt, braucht es Zirkularität. Wobei es nicht um Vollkommenheit geht. Wichtig ist, anzufangen und schrittweise immer weiterzugehen.

In der Printausgabe berichten wir über eine Reihe von Bauprojekten, die Aspekte des Kreislaufbauens umsetzten oder in Planung sind.