Thomas Emliger,
Rechtsdienst
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Die Generalversammlung (GV) ist das Willensbildungsorgan der Genossenschaft. Werden wichtige inhaltliche und formelle Vorschriften, die GV-Beschlüsse betreffen, in rechtlicher Hinsicht nicht korrekt angewendet, kann das zu Rechtsstreitigkeiten führen.
Je nach Inhalt des mangelhaften Beschlusses und der Intensität der Rechtswidrigkeit wird zwischen anfechtbaren und nichtigen Beschlüssen unterschieden. Ein anfechtbarer Beschluss entfaltet trotz seiner Verletzung von Gesetz oder Statuten zunächst rechtliche Wirkung, und zwar so lange, bis er durch einen Richter aufgehoben wird. Wird ein anfechtbarer Beschluss innert der zweimonatigen Frist1 nach Beschlussfassung nicht angefochten, wird er geheilt und demnach für alle Genossenschafter verbindlich. Als anfechtbar ist ein Beschluss zu qualifizieren, wenn er gegen das Gesetz oder die Statuten verstösst, jedoch sein Mangel nicht die qualifizierte Intensität der Nichtigkeit erreicht. Im Genossenschaftsrecht sind insbesondere Verstösse gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz2 wie auch das Kopfstimmprinzip3 als Anfechtungstatbestände denkbar. Ein nichtiger Beschluss hingegen ist mit dermassen schwerwiegenden Fehlern behaftet, dass er keinerlei rechtliche Wirkung entfalten kann und sein Rechtsmangel jederzeit – also auch nach Ablauf der zweimonatigen Anfechtungsfrist – geltend gemacht werden kann. Die Beantwortung der Frage, ob ein Beschluss nichtig oder bloss anfechtbar ist, bereitet in der Praxis erhebliche Schwierigkeiten. Als mit einem besonders schwerwiegenden Mangel behaftet und demnach nichtig gelten Beschlüsse, die einen unmöglichen Inhalt haben,4 gegen qualifizierte sowie besonders wichtige Formvorschriften, zwingende privatrechtliche Fundamentalnormen (etwa das Recht der Persönlichkeit) oder unverzichtbare Rechte der Genossenschafter (zum Beispiel Entzug des Stimmrechts) verstossen. Fehler, die die Ungültigkeit eines Beschlusses zur Folge haben, können bei der Einladung, an der GV oder im Rahmen der Beschlussfassung erfolgen. Der Wortlaut der Bestimmungen des Genossenschafts5- und des Aktienrechts6 betreffend Anfechtung von GV-Beschlüssen ist identisch, weswegen auf die reichhaltige Rechtsprechung zur Anfechtung im Aktienrecht Bezug genommen werden kann.
Bei der Einberufung sind folgende Mängel denkbar: Zum Inhalt der Einladung gehört neben Bekanntgabe von Ort und Zeit der Versammlung insbesondere die konkret formulierte Traktandenliste. Eine formell unrichtige Einberufung führt grundsätzlich lediglich zur Anfechtbarkeit des Beschlusses. Beispiele dafür sind eine ungenügende Traktandierung eines Verhandlungsgegenstandes7 oder das Nichteinhalten der vorgeschriebenen Einberufungsfrist8. Unter anderem können mangels gehöriger Traktandierung unter dem Punkt «Varia» durch die GV keine Beschlüsse gefasst werden, weshalb solche Beschlüsse anfechtbar sind.9 Ausnahmsweise, etwa bei gravierenden Verstössen, wo die Möglichkeit zur Teilnahme ausgeschlossen wird, ist gar Nichtigkeit sämtlicher Beschlüsse anzunehmen. Dies ist etwa der Fall, wenn Genossenschaftern absichtlich keine Einladung geschickt wird, um sie von einer Beschlussfassung auszuschliessen, wenn eine unzuständige Instanz die GV einberuft oder wenn Mitglieder ausgesperrt werden.10
Im Rahmen der Beschlussfassung ist zu differenzieren, ob das verlangte Quorum gesetzlich zwingend vorgeschrieben ist oder nicht.11 Nach Art. 888 Abs. 1 OR fasst die GV ihre Beschlüsse und vollzieht ihre Wahlen, soweit das Gesetz oder die Statuten es nicht anders bestimmen, mit absoluter Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Diese Bestimmung ist demnach nicht zwingender Natur, da statutarische Bestimmungen vorbehalten werden. Möglich ist folglich die Einführung eines statutarischen Anwesenheitsquorums oder einer qualifizierten Mehrheit für bestimmte Beschlüsse. Falls für bestimmte Beschlüsse ein spezielles Quorum verlangt wird, ist zunächst von dessen Anfechtbarkeit und nicht von deren Nichtigkeit auszugehen.12 Demgegenüber ist ein Beschluss, der beispielsweise die persönliche Nachschusspflicht ohne Einhaltung der gesetzlich vorgesehenen Dreiviertelsmehrheit13 einführt, nichtig, da die diesbezügliche Quorumsvorschrift von Gesetzes wegen zwingend erreicht werden muss.14 Kein Beschluss beziehungsweise ein nichtiger Beschluss ist anzunehmen, wenn die Versammlung nicht beschlussfähig ist, weil ein in den Statuten vorgesehenes Anwesenheitsquorum15 nicht zustande gekommen ist.
Bestehen Unklarheiten, ob eine GV stattfindet und welche Traktanden dort behandelt werden, ist es ratsam, sich im Vorfeld bei der Verwaltung genau über die geplante Versammlung beziehungsweise die in Rede stehenden Punkte zu informieren und die Verwaltung auf Unklarheiten und Fehler hinzuweisen, damit sie diese berichtigen und allenfalls neu zur Versammlung einladen kann.