Sanierungsstrategie erfährt einen Paradigmenwechsel

Besser dämmen oder erneuerbar heizen?

Bei der Modernisierung von Bestandesliegenschaften hiess es lange: zuerst die Hülle, dann die Heizung modernisieren. Eine tiefe Sanierungsquote, hohe Investitionskosten und nicht zuletzt der Klimawandel führen nun zu einem Umdenken.

Von Michael Staub | Bilder: Markus Lamprecht/Elco | April 2020

Seit zehn Jahren werden mit dem Gebäudeprogramm energetische Massnahmen gefördert. Dazu gehören die Dämmung der Gebäudehülle sowie die vermehrte Nutzung erneuerbarer Energien und der Abwärme. Während das Augenmerk der Öffentlichkeit beim Start des Gebäudeprogramms noch auf dem Wärmebezug lag, ist inzwischen der CO2-Ausstoss des Gebäudeparks in den Fokus gerückt. Hier zeigte sich ein interessanter Effekt. Die jährliche CO2-Wirkung eines eingesetzten Förderfrankens liegt bei der Förderung erneuerbarer Energien und von Abwärme höher als bei der Förderung von Massnahmen an der Gebäudehülle. Das ist naheliegend: Wenn das Heizsystem auf erneuerbare Energiequellen umgestellt wird, sinken die CO2-Emissionen eines Gebäudes mit einem Schlag auf null.

Bund fokussiert neu auf Heizung
Seit Anfang 2020 läuft nun auch das Programm «erneuerbar heizen» des Bundesamtes für Energie. Mit der gleichnamigen Impulsberatung können Bauherrschaften abklären, welche erneuerbaren Energieträger sie für eine neue Heizung ins Auge fassen können. Was motivierte die Trägerschaft, das Bundesamt für Energie (BFE), zu diesem Angebot? «Angesichts der klimatischen Veränderungen unseres Planeten ist konkretes Handeln dringend angesagt. Fossile Wärmeerzeuger wiederum mit einem fossilen Wärmeerzeuger zu ersetzen, ist nicht mehr zeitgemäss», sagt Sabine Hirsbrunner, Fachspezialistin Medien und Politik beim BFE. Das Heizen mit erneuerbaren Energieträgern reduziere dagegen die CO2-Emissionen, erhöhe den Wert der Liegenschaft und führe zu tieferen Lebenszykluskosten für die Heizung: «Zudem gibt es für fast jedes Gebäude eine passende Lösung.»
Mit dem bisherigen Verlauf des Programms ist man beim BFE zufrieden. Rund 800 Personen sind bereits als Impulsberater ausgebildet, weitere 300 haben sich für Schulungen angemeldet. Auch der Heizkostenrechner (siehe Infobox) wird laut Sabine Hirsbrunner rege benutzt. In der Baubranche wird «erneuerbar heizen» teilweise als Abkehr vom langjährigen Paradigma gedeutet. Dieses besagte, dass zuerst die Gebäudehülle gedämmt und erst dann ein neuer Wärmeerzeuger eingebaut wird. Nach wie vor befürworten viele Branchenvertreter diese Reihenfolge. Doch um sie umzusetzen, benötigt eine Bauherrschaft genügend Geld und die Bereitschaft, ein umfassendes Projekt zu stemmen. «Von der gleichzeitigen Sanierung der Heizung und der Gebäudehülle sind die meisten Eigentümerschaften finanziell zu stark gefordert», sagt Sabine Hirsbrunner. Zudem gebe es einen wichtigen Unterschied: «Der Leidensdruck ist meistens höher, wenn die Heizung aussteigt, als wenn die Gebäudehülle nicht gemäss aktuellem Stand gedämmt ist.»

Technologiewechsel unausweichlich
Soll man im Zweifelsfall also zuerst einmal die Heizung ersetzen? So einfach sei es nicht, sagt Marcel Truninger. Er ist Leiter Region Ost und Mitglied der Geschäftsleitung bei Elco. Beim Schweizer Heizungshersteller legt man Wert auf die richtige Auslegung des Heizsystems. Wärmepumpen seien komplexe Systeme, die optimal auf ihr Einsatzgebiet abgestimmt werden müssten, sagt Marcel Truninger: «Wenn das Gebäude nachträglich gedämmt wird, kann es sein, dass die Leistung der Wärmepumpe zu gross ist. Das ist nicht optimal. Eine Überdimensionierung kann den Jahreswirkungsgrad und die Lebensdauer der Wärmepumpe negativ beeinflussen.»
In Gesprächen mit privaten und institutionellen Eigentümern hat Marcel Truninger jedoch festgestellt, dass fossile Heizungen selten «optimal» saniert werden. Statt sich zuerst Gedanken über eine verbesserte Dämmung zu machen und danach eine Heizung mit erneuerbarem Energieträger zu installieren, werde häufig ein 1:1-Ersatz mit einem neuen Öl- oder Gaskessel vorgenommen. In Kantonen, welche die Energievorschriften (MuKEn) noch nicht umgesetzt haben, und das sind die meisten, ist dies noch erlaubt. Nach Meinung von Marcel Truninger wird es aber nicht mehr lange so weitergehen: «Sobald die MuKEn in allen Kantonen umgesetzt sind, ist ein 1:1-Ersatz nur noch im Zusammenhang mit zusätzlichen Massnahmen möglich. Dann werden viele Eigentümerschaften ihre fossilen Kessel vermutlich noch einige Male reparieren lassen, bevor sie schliesslich ein modernes oder erweitertes Heizsystem einbauen. Technologiewechsel brauchen etwas Zeit, aber früher oder später sind sie Realität.»

Die bestehende Dämmung des Gebäudes wurde belassen. Durch den Wechsel von Gas auf Umweltwärme hat sich der CO2-Ausstoss der Heizung auf null reduziert. 

Vererbtes Kategoriendenken
Martin Ménard ist Partner und Berater bei der Lemon Consult AG. Der Lehrmeinung, wonach man zuerst die Hülle und erst dann die Heizung sanieren solle, steht er skeptisch gegenüber. Eine bessere Dämmung sei sinnvoll, wenn das Gebäude noch mindestens dreissig Jahre lang weitergenutzt werde und die Kosten amortisiert werden könnten, meint er. Auch Komfortprobleme im Winterhalbjahr seien ein guter Grund, um die Gebäudehülle zu ertüchtigen. Fossile Heizungen durch solche mit erneuerbaren Energieträgern zu ersetzen, sei aus Sicht des Klimaschutzes jedoch «fast immer sinnvoll und notwendig, ob jetzt mit oder ohne vorgängige Verbesserung des Wärmeschutzes». Doch das Denken in den alten Kategorien habe ohnehin ausgedient: «Die bisherigen Massnahmen reichen nicht aus, um eine Klimakatastrophe abzuwenden. Deshalb hat der Klimaschutz heute Vorrang vor dem Wärmeschutz.»
Bei den Gebäudehüllenspezialisten ist man sich der Problematik bewusst. «Die hohen Kosten halten heute viele Bauherren und Investoren von einer umfassenden Modernisierung ab. Eine Heizung zu ersetzen, ohne die Gebäudehülle zu modernisieren, scheint uns aber wenig sinnvoll», sagt Urs Hanselmann, Projektleiter Technik beim Branchenverband Gebäudehülle Schweiz. Deshalb empfiehlt er eine dreistufige Strategie: «Zuerst kommt die ganzheitliche Sanierung der Gebäudehülle, danach der Heizungsersatz inklusive Solarthermie. Als dritte Stufe sehen wir die Elemente Photovoltaik, Batteriespeicher und Smart Home.» Mit diesem «Königsweg e+» könne eine umfassende, etappierte Modernisierung des Gebäudes in Angriff genommen und auch finanziert werden. Insbesondere die solare Gebäudehülle (PV-Module auf Dach und/oder Fassade) sei ein attraktives System, meint Urs Hanselmann: «Diese Gebäudehülle verringert den Energiebezug des Gebäudes und liefert erst noch Strom und/oder Wärme.»

Wie vorgehen?
Wie finden Baugenossenschaften nun den richtigen Weg zur Sanierung ihrer Gebäude? Sabine Hirsbrunner vom BFE rät, zunächst einen Gebäudeenergieausweis Geak Plus erstellen zu lassen. Bei fossilen Heizungen, die älter sind als zehn Jahre, könne die Impulsberatung «erneuerbar heizen» klären, welche erneuerbaren Energieträger für die neue Heizung in Frage kommen. Auch Marcel Truninger von Elco empfiehlt, zuerst die Sanierungsstrategie und den Energieträger festzulegen, bevor Offerten für den Heizungsersatz eingeholt werden: «Wenn die Eigentümerschaft weiss, was sie will, kann der Installateur von Anfang an das richtige System offerieren.»
Seit Jahr und Tag dümpelt die Sanierungsquote des Schweizer Gebäudeparks bei einem Prozent pro Jahr. Das wird nicht mehr reichen. «Die Zeit drängt», sagt Martin Ménard von Lemon Consult, «in den kommenden 25 Jahren müssen in der Schweiz rund 1,5 Millionen fossile Heizungen ersetzt werden. Damit die Gebäudeeigentümer mitmachen, müssen die Kosten der erneuerbaren Heizsysteme noch weiter sinken, bürokratische Hürden müssen möglichst abgebaut und die Fördermittel erhöht werden.»

Bei der Heizungswende klemmt es

Theoretisch sollten seit dem 1. Januar 2020 in der ganzen Schweiz die Mustervorschriften der Kantone für den Energiebereich umgesetzt sein (MuKEn 2014). Jedoch sind die MuKEn erst in acht Kantonen umgesetzt (BL, BS, FR, JU, LU, OW, VD; AI ab April 2020). Die meisten Stände sind mit der Vernehmlassung und Ausarbeitung der entsprechenden Vorlage beschäftigt, in vier Kantonen läuft die parlamentarische Phase (AG, NE, SG, SH). In Bern und Solothurn braucht es einen zweiten Anlauf, da die erste Fassung des Energie­gesetzes an der Urne gescheitert ist. Eine wichtige Rolle spielen die MuKEn 2014 bei Sanierungen: Sie verlangen, dass das Heizsystem bei einem 1:1-Ersatz (Öl- oder Gaskessel) zusätzlich erneuerbare Energiequellen nutzt.

Dies sind zum Beispiel thermische Solarkollektoren für die Warmwasseraufbereitung. In Kantonen, welche die MuKEn umgesetzt haben, funktioniert diese Vorgabe. Gemäss BFE setzen beispielsweise in Luzern viele Eigentümerschaften auf Heizsysteme mit vollständig erneuerbaren Energieträgern, statt «nur» den geforderten erneuerbaren Anteil umzusetzen. Doch in vielen anderen Kantonen fördert die Unsicherheit über den Zeitpunkt der Umsetzung paradoxerweise den 1:1- Ersatz von Öl- und Gasheizungen: Viele Eigentümerschaften beschleunigen den Ersatz ihrer fossilen Heizung, weil sie die Mehrkosten fürchten. Damit wird das bestehende System (fossile Heizung, unzureichende Dämmung) für weitere 15 bis 20 Jahre fortgeschrieben.

Ressourcen für Baugenossenschaften

  • Als umfassende Zustandsaufnahme eines Gebäudes (Hülle und Heiz­system) bewährt sich der Gebäudeenergieausweis Geak plus: www.geak.ch
  • Welche neue Heizung mit erneuer­baren Energieträgern ist machbar und sinnvoll? Das neue Angebot «erneuerbar heizen» bietet unkomplizierten Zugang zu einer Impuls­beratung: www.erneuerbarheizen.ch
  • Die Broschüre «Königsweg e+» des Branchenverbandes Gebäudehülle Schweiz zeigt, wie eine etappierte energetische Sanierung aussehen kann: www.gebäudehülle.swiss (Suchbegriff «Königsweg»)
  • Wie viel kostet die energetische Ertüchtigung einer Fassade? Mit dem web­basierten Rechner können die Sanierungskosten rasch geschätzt werden: www.daemmen-nicht-nur-malen.ch