Wobe Biel saniert Hochhaus von 1960
Mit einem Kraftakt in die Zukunft
Nach fünfzig Jahren des Aufschiebens und der leeren Kassen brauchte es einen veritablen Kraftakt. Nun hat die Wohnbaugenossenschaft Wobe in Biel ihr Hochhaus umfassend saniert, die Zukunftsplanung angepackt und sich ein neues finanzielles Fundament geschaffen.
Von Michael Staub | Bilder: Remo Zehnder | Dezember 2020
Für Baugenossenschaften gehören Sanierungen zum Tagesgeschäft. Doch eine derart umfassende Erneuerung wie am Mettlenweg 66 in Biel ist selten. Das 13-geschossige Wohnhochhaus, 1960 vom Bieler Architekten Max Schlup erbaut, wurde bis auf das originale Betontragwerk rückgebaut. Mit Grundrissen, die sich wieder an die ursprüngliche Konfiguration anlehnen, hinzugefügten Loggias, einem neuen Innenausbau und der Erneuerung der gesamten Gebäudetechnik ist die Eingriffstiefe sehr gross. Mit dem Kraftakt löste die Wohnbaugenossenschaft «wobe» («wohne besser, habite mieux») verschiedene Probleme auf einen Schlag. So wurde der sehr schlechte Gebäudezustand behoben, ein zeitgemässer Wohnungsmix geschaffen, die Ertragslage verbessert und das Hochhaus nach einer missglückten Fassadensanierung im Jahr 2005 wieder näher an sein ursprüngliches Erscheinungsbild herangeführt.
Kumulierte Probleme
Billige Wohnungen anbieten, und das um jeden Preis – so kann man die jahrzehntelange Strategie der Wobe beschreiben. In den 1960er-Jahren betrugen die Mietzinse 300 Franken für eine Dreizimmerwohnung, 400 Franken für eine Vierzimmerwohnung. Um 2010 lagen die Mieten nicht viel höher. Die Genossenschaft besass kein Kapital, und die spärlichen Einnahmen reichten nicht für den Unterhalt. Die Mieterinnen und Mieter renovierten und gestalteten auf eigene Faust, verlegten Teppiche oder installierten Styropordämmungen an den Zimmerdecken. Immer wieder verlangte die kantonale Gebäudeversicherung die Umsetzung von Brandschutzmassnahmen. Die Wobe reagierte nicht auf diese Forderungen. 2014 erklärte die Gebäudeversicherung, das Hochhaus nicht mehr versichern zu können. Für zusätzlichen Druck sorgte das nahende Ende des Baurechtsvertrages mit der Stadt Biel im Jahr 2018.
In dieser Situation suchte die Wobe den Rat von Vincent Studer, bis 2017 Präsident der Bieler Baugenossenschaft Biwog und daneben selbständiger Liegenschaftsverwalter und Berater. An einer emotionalen Vorstandssitzung der Wobe trat deren Präsident nach 50-jähriger Amtszeit ab, und Studer wurde gebeten, dessen Funktion zu übernehmen. Zunächst gab er eine Studie in Auftrag, um den Zustand des Gebäudes zu erheben. Gemeinsam mit der Stadt Biel und Freiraum Architekten arbeitete die Wobe darauf eine strategische Planung aus, um ihre drei Siedlungen in die Zukunft zu führen. Nach einer sanften Renovation der Siedlung Aegertenstrasse wurden deren Mietzinse von 300 auf 900 Franken erhöht. «So hatten wir überhaupt einmal Geld für eine Machbarkeitsstudie, denn die Kassen der Wobe waren leer», berichtet Vincent Studer. Mit dieser Studie lichtete sich der Nebel: Das Hochhaus sollte umfassend saniert, die benachbarte Siedlung hingegen mit Neubauten ersetzt werden (siehe Box «Quartier im Umbruch»).
Aufwendige Transformation
Im Rahmen der Strategieentwicklung definierte die Wobe einen neuen Mieterspiegel, bestimmte den Wert des Gebäudes, legte Investitionsmöglichkeiten dar und plante die zukünftige Zusammenarbeit mit der Stadt Biel. Mit diesem Dossier im Gepäck wurden verschiedene Banken kontaktiert. Eine Anschubfinanzierung der EGW in der Höhe von zwei Millionen Franken ermöglichte es, eine Hypothek aufzunehmen und damit die Sanierung des Hochhauses zu finanzieren. «Der erste Kostenvoranschlag betrug fast 16 Millionen Franken. Wir konsolidieren nun die Rechnung und gehen von einem Endbetrag von gut 13 Millionen Franken aus», berichtet Vincent Studer. Viel Spielraum, aber noch mehr Arbeit brachte der Entscheid, anstelle einer General- oder Totalunternehmung ausschliesslich Unternehmen aus der Region zu berücksichtigen.
Eine Sanierung im bewohnten Zustand wäre unmöglich gewesen, doch die wenigsten Mieterinnen und Mieter waren bereit, aus ihren extrem günstigen Wohnungen ausziehen. Der Vorstand stand unter Druck und wurde teilweise bedroht. An einer Generalversammlung unter Securitas-Schutz wurde 2014 die bauliche und finanzielle Situation dargelegt. «Darauf folgten 56 Gespräche, für jede Wohnung eines, 56-mal zwei Stunden mit vielen Tränen und Emotionen», erinnert sich Vincent Studer. Ein Grossteil der Genossenschafter sei darauf weggezogen, einige wenige wechselten in die Siedlung Aegertenstrasse. Nur fünf Fälle landeten vor der Schlichtungsbehörde, die Mieterstreckungen betrugen jeweils wenige Wochen.
Anspruchsvolle Bauarbeiten
Nach den sozialen folgten die baulichen Herausforderungen. Denn die filigranen Betonstützen des Gebäudes sind teilweise nur 15 Zentimeter stark, die Bewehrungsüberdeckung entspricht nicht mehr überall der heutigen Norm. Mit einer aufwendigen Einzelfallberechnung konnte schliesslich der Brandschutznachweis erbracht werden. Um den Zustand der Betonfassade unter der 2005 angebrachten Eternitverkleidung zu erheben, wurden zahlreiche Sondagen vorgenommen. «Beim Rückbau der Gebäudehülle gab es dennoch eine Überraschung. Denn auf der Süd- und der Westseite war der Zustand des Betons erstaunlich gut, auf der Ost- und der Nordseite hingegen sehr schlecht», berichtet Simon Schudel, zuständiger Projektleiter bei Freiraum Architekten. Anstelle der geplanten Tiefen-Hydrophobierung musste deshalb eine lasierende CO2-Bremse aufgetragen werden.
Die energetische Ertüchtigung sowie der Innenausbau verliefen hingegen nach Plan. Die gemauerten Vorsatzschalen entlang der Wandscheiben wurden abgebrochen und mit einer zwölf Zentimeter starken Mineraldämmung ersetzt. Im Verbund mit den neuen Fenstern konnte so die Wärmedämmung markant verbessert werden. Der Unterlagsboden wurde neu aufgebaut und erhielt eine Trittschall- und Wärmedämmung. Im Eingangs-, Koch- und Essbereich wurde Linoleum verlegt, in den Zimmern Klötzliparkett. Die betonierten Zimmerdecken wurden sandgestrahlt. Für die Belüftung installierte man im Küchenbereich eine einfache Zuluftanlage. Die neuen Badezimmer konnten durch den Rückbau der alten Steigzonen vergrössert werden und wurden mit «Varios»-Vorwandsystemen ausgerüstet, die über eine eingebaute Komfortlüftung verfügen. In der Küche wird die Zugluft eingeblasen und in den Badzimmern Abluft abgezogen.
Die Leitlinie für die Innenarchitektur war die Entstehungszeit, also die 1960er-Jahre, wie Simon Schudel ausführt: «Einfache, klare Materialien sind Trumpf. Deshalb gibt es im Korridor wiederum einen Linoleum, in der Küche hingegen Oberschränke aus geöltem Birkensperrholz und Unterschränke aus Bakelit.» Für die Bereitstellung von Raumwärme und Warmwasser wurde das Gebäude neu an das Fernwärmenetz Biel-Battenberg angeschlossen. «Dank diesen Massnahmen konnte das Gebäude im Geak-Ausweis um drei Effizienzklassen aufsteigen», berichtet Simon Schudel.
Mehr Diversität
Wie in vielen anderen Siedlungen hatte sich die Mieterschaft im Lauf der Jahre homogenisiert. Um wieder eine bessere soziale Durchmischung zu erreichen, setzt die Genossenschaft auf einen differenzierten Wohnungsmix. Im Erdgeschoss befinden sich zwei Atelierwohnungen, die an Spielgruppen vermietet werden. Im ersten, zweiten und dritten Stockwerk sind Clusterwohnungen entstanden, die sich um eine Gemeinschaftsküche und einen Gemeinschaftsraum gruppieren. Vom vierten bis zum zwölften Geschoss gibt es jeweils zwei Vierzimmerwohnungen mit Loggia für Familien sowie je eine Dreizimmerwohnung mit Loggia und eine einfache Dreizimmerwohnung für eine oder zwei Personen. Im dreizehnten Stock befinden sich zwei Vierzimmerwohnungen mit Loggia sowie zwei behindertengerechte Zweizimmerwohnungen. Die Mieten liegen im Budget für Personen mit AHV/IV sowie Ergänzungsleistungen.
«Mit dem neuen, deutlich breiteren Mix sind wir offen für ganz verschiedene Gruppen. Früher wohnten die Leute im Hochhaus, weil es in Biel keine billigere Wohnung gab. Nun möchten wir auch Menschen erreichen, welche die Architektur der 1960er-Jahre schätzen. Dazu bewirtschaften wir soziale Medien wie Facebook und haben die Website ‹Mettlen66› erstellt, die gezielt dieses Publikum ansprechen soll», berichtet Vincent Studer. Die Vermietung lief eine Woche vor Redaktionsschluss an, ein halbes Dutzend Wohnungen ist bereits vermietet.
Baudaten
Bauträgerin:
Wohnbaugenossenschaft Wobe, Biel
Architektur:
Freiraum Architekten AG, Biel
Umfang:
Wohnhochhaus mit 45 Wohnungen
(2 x Atelierwohnung, 3 x Clusterwohnung à 14 Zimmer, 20 x 4-Zimmer-Wohnung mit Loggia, 9 x 3-Zimmer-Wohnung mit Loggia, 9 x 3-Zimmer-Wohnung ohne
Loggia, 2 x 2-Zimmer-Wohnung im Dachgeschoss), Waschküchen im Erdgeschoss
Baukosten (BKP 1–5, prov.)
13 Mio. CHF
ca. 3275 CHF/m2 HNF
Mietzinsbeispiele:
3-Zimmer-Wohnung ohne Loggia (53 m2, 10. Stock): 1020 CHF plus 190 CHF NK
3-Zimmer-Wohnung mit Loggia (58 m2, 10. Stock) : 1150 CHF plus 205 CHF NK
4-Zimmer-Wohnung mit Loggia (78 m2, 10. Stock): 1450 CHF plus 280 CHF NK
Quartier im Umbruch
Während die Wohnungen im sanierten Hochhaus nun mindestens für die nächsten zwanzig bis dreissig Jahre «verhäbe» sollten, müssen die Genossenschafterinnen und Genossenschafter noch etwas warten, bis sich auch die Umgebung der neuen Zeit anpasst. Der Aussenraum, der früher zum Hochhaus gehörte, wurde dem benachbarten Areal Mettlenstrasse 68-70 zugeschlagen. Für die Ersatzneubauten wurde 2018 ein Wettbewerb durchgeführt. Diesen gewannen Bonnet Architectes (Genf) zusammen mit den Landschaftsarchitekten vom Atelier du Paysage J-Y Le Baron (Lausanne). Ihr Projekt «MiniMax» wird derzeit ausgearbeitet. Während die bestehenden drei Mehrfamilienhäuser lediglich zwölf Wohnungen umfassen, sollen die Neubauten von «MiniMax» deren 42 bringen. Das Projekt kommt voraussichtlich 2021 an die Urne, der frühestmögliche Baustart wäre demzufolge 2022.